Ein Geschenk fürs Leben
Mit Ende 20 wird bei Anna eine schwere Nierenerkrankung festgestellt. Ihre Mutter Lea ist bereit zur Organspende, doch der Weg zur Transplantation entpuppt sich als dramatischer Behandlungskrimi.
Anna* fühlt sich schlapp, ihr ist übel. Liegt’s an der Verdauung? Oder hat sie einfach zu viel um die Ohren? Das Leben in London, wo die Hamburgerin mit Anfang 20 ihren Master am King’s College absolvierte, ist bewegt. Ihre Arbeit als Digitalberaterin und in der Unternehmensberatung ist anspruchsvoll. Als sich zur Erschöpfung hämmernde Kopfschmerzen gesellen und ihre Beine anschwellen, sucht Anna einen Allgemeinmediziner auf. Der stellt zunächst nichts Besonderes fest. Zehn Jahre ist das her.
Einige Wochen später – ein Flug in die USA steht bevor – sind die Beine noch immer stark geschwollen. Aus Angst, es sei eine Thrombose, sucht Anna erneut einen Arzt auf. Eine Thrombose ist es nicht – doch das Ergebnis der Blutuntersuchung, die endlich veranlasst wird, ist verstörend: Die Nieren arbeiten nur noch zu 20 Prozent. Die Dimension dieser Aussage ist ihr nicht klar. „Macht euch keine Sorgen“, beruhigt Anna ihre Kollegen, mit denen sie in die USA fliegt. „Es sind nur die Nieren.“ Eine Party muss sie absagen – ärgerlich. Aber bis Weihnachten sollte wohl alles wieder gut sein. „In diesen Dimensionen habe ich gedacht“, erinnert sich Anna. Tatsächlich wird ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Ein Nierenfacharzt eröffnet ihr, dass sie wahrscheinlich an einer unheilbaren chronischen Nierenentzündung leide. Er rät dringend zu einer Transplantation. Familie und Freunde sind alarmiert, einige erklären sich bereit, eine Niere zu spenden. Allen voran Annas Mutter Lea.
Ich hätte es nicht ausgehalten zu sehen, wie meine Tochter langsam verlischt
Lea, Lebendspenderin
Annas Gesundheitszustand verschlechtert sich, sie reduziert die Arbeitszeit, ihre Angst vor dem Nierenversagen wächst. Sie zieht zurück nach Hamburg, um Familie und alten Freunden näher zu sein. Lea ist über die Krankheitssymptome ihrer Tochter stets auf dem Laufenden. Anna vermutet heute, dass ihrer Mutter „viel früher als allen anderen klar war, was alles mit der Transplantation verbunden sein würde. Ich selbst habe nicht ansatzweise geahnt, wie groß der Anteil meiner Mutter einmal sein würde.“
Im UKE bestätigen die Fachärzte: Anna leidet an einer IgA-Nephritis; Antikörper des Immunsystems greifen das Nierengewebe an. Als die Leistung ihrer schon geschwächten Nieren weiter nachlässt, wird im UKE alles für eine Transplantation vorbereitet. Ihre Mutter ist als Organspenderin vorgesehen. Ihr Gewebe weist eine hohe Übereinstimmung mit Annas
Gewebe auf. Aber die Blutgruppen passen nicht zusammen. Ohne Vorbehandlung droht der transplantierten Niere eine Abstoßungsreaktion – dann wäre alles umsonst. Eine spezielle zwei- bis dreiwöchige Blutwäsche soll dies verhindern. Doch es treten Komplikationen auf, trotz immer neuer Verlängerungen der Behandlung steigt die Abwehr von Annas Blut gegen das Blut ihrer Mutter dramatisch an statt zu fallen. Immer wieder wird der OP-Termin verschoben – eine Zerreißprobe für Anna und Lea.
Am Vorabend des letzten geplanten OP-Termins – sie hat gerade ihren Koffer für den Krankenhausaufenthalt gepackt – erhält die Mutter einen Anruf aus dem UKE: Die Transplantation kann nicht stattfinden. Noch nie sei sie so außer sich vor Verzweiflung gewesen, sagt die Mutter, und das Entsetzen ist heute noch immer spürbar. „Meine Tochter brauchte dringend Hilfe, und ich konnte nicht helfen.“
Zurück in ihrer Wohnung ist Anna psychisch am Ende, die Nieren am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Die Dialyse ist unvermeidbar. Dreimal pro Woche fährt Anna ins UKE, jeweils fünf Stunden dauert die Prozedur. Ihr Lebenspartner, die engen Freunde und ihre Familie sind wichtige Stützen in dieser Zeit. Anna setzt ihre Behandlung in einer Spezialambulanz fort, die eng mit dem UKE kooperiert. Auf Anraten des dortigen Nephrologen setzt sie alle Medikamente ab, die ihr in Vorbereitung der Transplantation gegeben worden waren. Dann geschieht Erstaunliches: Die Nierenleistung erholt sich etwas.
Genau sechs Monate danach ist ein neuer Transplantationstermin angesetzt. Wieder wird er am Vorabend abgesagt. Begründung diesmal: Annas Nierenwerte sind noch über dem Grenzwert, der eine Nierenlebendspende rechtfertigt.
Die Entscheidung der Ärzte, so enttäuschend sie zunächst nach dem zuvor Erlebten für Anna war, erweist sich aus heutiger Sicht als lebensverlängernd. Mit eiserner Disziplin kämpft Anna um ihre Gesundheit. Die Krankheit zwingt ihrem Leben einen festen Rhythmus auf und erfordert eine strikte Diät. Ihre Ernährung stellt sie um, treibt im bestimmten Rahmen Sport. Stück für Stück kommt sie in eine neue Normalität hinein, wechselt auf eine Stelle als Projektleiterin, unternimmt Reisen. Fünf Jahre lang bleiben die Werte mehr oder weniger stabil, dann verschlechtern sie sich endgültig und sehr schnell.
Inzwischen sind Mutter und Tochter zu Experten in eigener Sache geworden; sie haben sich intensiv mit dem Thema „Transplantation bei Blutgruppenunverträglichkeit“ beschäftigt und sind auf die Möglichkeit der Vorbehandlung des Empfängers nach dem sogenannten Stockholmer Protokoll gestoßen. Diese Methode wird seit 2017 auch im UKE praktiziert. So begibt sich Anna Ende 2018 zum dritten Mal zur Vorbereitung der Transplantation in die Klinik. „Es kostete ungeheure Kraft, die Angst vor einem erneuten Fehlschlag zu überwinden. Aber die Ärzte im UKE haben uns unglaublich unterstützt“, sagt Lea. Und wirklich: Dieses Mal lässt sich die Abwehr von Annas Blut gegen das ihrer Mutter erfolgreich unterdrücken.
Am Tag vor der OP bezieht Lea das Krankenbett neben Anna. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, erfolgt die Entnahme der Niere, zwei Stunden später kann sie Anna eingesetzt werden, und noch bevor die Wunden vernäht sind, beginnt die neue Niere zu arbeiten. Aus der Narkose erwacht, schaut Anna mit ängstlicher Erwartung auf ihren Urinbeutel – er ist schon zu einem Drittel gefüllt. Welches Glück! Nach dem Krankenhausaufenthalt verbringen Mutter und Tochter gemeinsam drei Wochen in der Reha, beide erleben die Zeit als wichtigen Beitrag zur Genesung. „Große Schmerzen, Erschöpfung, Leistungseinbußen – damit musste ich als Spenderin rechnen, das konnte ich in Kauf nehmen. Was ich nicht ausgehalten hätte, wäre, zu sehen, wie meine Tochter langsam verlischt“, resümiert Lea. Ihre Beschwerden sind heute fast verschwunden.
Anna arbeitet in Teilzeit, treibt vorsichtig etwas Sport. Das Leben nach der Transplantation bringt viele neue Herausforderungen. Die ständige Einnahme von Immunsuppressiva (Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken) macht sie empfänglich für jegliche Ansteckungen. Sie vermeidet große Menschenansammlungen und öffentliche Verkehrsmittel. Die Gefahr, an Krebs zu erkranken, ist gestiegen. Viele Menschen in ihrem Umfeld zeigen Verständnis, andere wollen nur ein Happy-End sehen, verstehen nicht, dass die Belastung weiter hoch ist, ständige Untersuchungen und Kontrollen
notwendig sind. Es ist nicht immer leicht, weiter positiv zu denken. Und dennoch: „Ich verspüre unendliche Dankbarkeit für dieses größtmögliche Geschenk meiner Mutter“, sagt Anna.
*Namen geändert, Mutter und Tochter stehen für Infos zum Thema zur Verfügung.
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Autorin: Ingrid Kupczik
Fotos: Axel Heimken