Herzensangelegenheiten
Wenn einem mit 19 Jahren die Frührente ans Herz gelegt wird, wenn man erlebt, wie eben dieses langsam seinen Geist aufgibt und wie es sich anfühlt, wenn ein neues in der Brust schlägt, dann kann das der Beginn einer besonderen Freundschaft sein.
Instagram macht den Anfang: Durch einen Tipp kommt Katrin auf den Account von Veronica. Die ist gerade frisch herztransplantiert aus dem UKE entlassen worden und postet nun ihre Erfahrungen aus der Reha-Klinik. Katrin kommen die Bilder bekannt vor. War sie dort nicht auch nach ihrer OP im UKE? Treffer! Und Startpunkt für eine besondere Freundschaft: Veronica löscht den öffentlichen Account, die Frauen telefonieren und chatten nun fast täglich. Ihr erstes Live-Treffen findet Ende 2020 im UKE statt, sie haben ihre Termine für die Kontrolluntersuchung entsprechend koordiniert. „Wir haben so viele ähnliche Erfahrungen gemacht, können uns unterstützen und aus Tiefphasen heraushelfen“, sagt Katrin. „Wir sind unsere eigene Selbsthilfegruppe“, ergänzt ihre Freundin lachend.
Sieben Jahre ist die Welt in Ordnung
Veronicas Start ins Leben ist dramatisch: 1993 kommt sie in Uruguay mit einer schweren Fehlbildung des Herzens auf die Welt und wird sofort operiert. In der Hoffnung, dass dem Kind in Deutschland besser geholfen werden könne, zieht die Familie zur Großmutter nach Hamburg. Mit zweieinhalb Jahren erhält das Mädchen eine künstliche Lungenklappe und einen Herzschrittmacher. Sieben Jahre lang ist die Welt in Ordnung, dann folgen viele Operationen und Krankheiten: Schrittmacherwechsel, Gallenentfernung, Blinddarmentfernung, Lungenentzündung. „Ich erinnere mich dennoch an eine unbeschwerte Kindheit und Jugend“,sagt Veronica. Sie besucht den Kindergarten, spielt ausgelassen mit den anderen. „Nur, wenn ich richtig getobt hatte, bekam ich Luftnot. Das war’s."
In der Schule treibt sie in Maßen Sport, Werfen und Springen haben es ihr angetan; in der Freizeit spielt sie Tennis und tanzt. Es läuft rund – bis zum 16. Lebensjahr, als ihr Herz zunehmend schwächer wird. Erneut ist eine Operation fällig: Eine undichte Herzklappe wird repariert. Die Anschluss-Reha lässt Veronica aus, setzt sich stattdessen mit einer Stützweste, die den Brustkorb zusammenhält, in den Prüfungsraum und meistert den Realschulabschluss „mit einem super Ergebnis, darauf bin ich stolz.“ Danach startet sie die Ausbildung zur Arzthelferin in einer kardiologischen Praxis, ist aber stets nach einem halben Tag völlig erschöpft und bricht schließlich ab. Die Mutter vermutet psychische Ursachen, doch auch nach erneutem Klinikaufenthalt wird es nicht besser.
„Ich war 18, immer nur müde und fühlte mich wie eine alte Frau.“ Auch für die neu begonnene Ausbildung zur Bürokauffrau fehlt ihr die Kraft, oft schläft sie am Schreibtisch ein. Bei einer weiteren Reha-Kur wird ihr vorgeschlagen, in Frührente zu gehen, „das war ein Schlag ins Gesicht“. Nichtsdestotrotz absolviert Veronica die gesamte Ausbildung in Vollzeit, sie lernt dabei ihren heutigen Ehemann kennen, macht den Abschluss, findet halbtags Arbeit in einem Schulbüro. Alles wieder halbwegs im Lot, so scheint es eine ganze Zeit lang.
Doch dann geht von einem Tag auf den anderen nichts mehr: Im Sommer 2020 ist Veronica mit dem Rad unterwegs, schafft danach kaum die Treppen hinauf, bricht in der Wohnung zusammen. Die Ärzte im UKE stellen ein Nierenversagen fest. Wenig später liegt Veronica erneut auf der Intensivstation: Wasser in der Lunge, Leberstau, multiples Organversagen. Sie entscheidet sich zur Herztransplantation, kommt auf die Warteliste hochdringlicher Fälle für ein Spenderherz und verbringt die Wartezeit im UKE. „Ich hatte große Hoffnung, aber auch fürchterliche Angst vor dem Eingriff.“ Dreieinhalb Wochen später steht ein passendes Herz zur Verfügung, dann geht alles ganz schnell. Am Morgen nach der Transplantation ist sie bereits mit einer Gehhilfe auf dem Stationsflur unterwegs. „Da habe ich gespürt, wieviel Kraft plötzlich wieder in mir steckt.“
Krebserkrankung mit zwei Jahren
Zu diesem Zeitpunkt hat Katrin schon ein Jahr Erfahrung mit ihrem neuen Herzen. „Mir ging es die ganze Zeit richtig gut“, berichtet die 21-Jährige. Die wöchentlichen Untersuchungen im UKE nach der Transplantation Ende 2019 ergeben unauffällige Werte, doch dann kommt es wie ein Hammerschlag: Bei der Jahresuntersuchung im Herbst 2020 wird eine Abstoßung festgestellt. „Da habe ich nur noch geweint.“ Sollte das ganze Drama wieder von vorn losgehen?
Katrin ist im Jahr 2000 als gesundes Millenniumsbaby auf die Welt gekommen. Mit zwei Jahren erkrankt sie an einem aggressiven Blasenkrebs, der im UKE mit Operation und Chemotherapie dauerhaft besiegt wird. Das Mädchen spielt Handball im Verein, kickt mit den Geschwistern und Freunden auf dem Bolzplatz. Einmal im Jahr fährt die Mutter mit ihr zur Kontrolluntersuchung ins UKE, da eine Chemotherapie zu Herzschäden führen kann. Sie ist zwölf Jahre alt, als sie dieses Schicksal ereilt: „Beim Handballtraining kam ich immer schneller aus der Puste. Außerdem hatte ich ständig blaue Hände und Lippen.“
Im UKE wird eine Herzschädigung festgestellt, Katrin nimmt nun Medikamente, muss auf den geliebten Sport verzichten, ihr Zustand verschlechtert sich weiter. Mit 14 ist sie körperlich so schwach und seelisch so aufgerieben, dass sie monatelang nicht in die Schule gehen kann. Als sie erneut im UKE behandelt werden muss, wird das Thema Herztransplantation angesprochen. „Bis Ende 2018 ging es mir für meine Verhältnisse aber noch ganz gut.“ Doch ihr Herz wird immer schwächer, jede Bewegung strengt an, beim Stadtbummel mit den Freundinnen kann sie längst nicht mehr Schritt halten. Katrin zieht sich zurück. „Ich habe meine Jugend dann weitgehend in meinem Zimmer verbracht“, bilanziert sie nüchtern.
Trotz vieler Fehltage schafft sie den Realschulabschluss. „Das war krass, ich war so stolz.“ Die Vorbereitung auf die Fachhochschulreife muss sie abbrechen – Lungenentzündungen, Lungenhochdruck, Blut gespuckt, „irgendetwas war immer.“ Katrin verliert an Gewicht, es geht runter auf 38 Kilo bei 1,60 m Körpergröße. Die Ärzte raten nun dringend zur Herztransplantation, doch vorher ist eine Reha-Kur angesagt, um Gewicht zuzulegen und Kräfte zu sammeln. Katrin wird als hochdringlich gelistet – auf der Kinderliste, obwohl sie längst 18 ist. Die Untersuchung ihrer Handwurzelknochen hat ergeben, dass diese dem Alter einer 16-Jährigen entsprechen. „Das war mein Glück, denn dadurch durfte ich die Wartezeit zu Hause bei meinen Eltern verbringen.“ Drei Monate später kommt mitten in der Nacht der ersehnte wie gefürchtete Anruf: „Wir haben ein Herz für Sie.“ Am selben Morgen liegt sie im OP-Saal. Ihr erster Gedanke nach der Narkose: „Ich lebe!“ Sie bemerkt, dass das Spenderherz viel ruhiger schlägt, als sie es kennt. „Ich hatte mir alles viel schlimmer vorgestellt“, sagt sie. „Mir ging es richtig gut hinterher. Ich hatte keine Beschwerden und war überrascht, wieviel ich plötzlich machen konnte.“
Christine Oelschner als rettender Hafen
Als ein Jahr später die Abstoßungsreaktion anhand der Gewebeprobe festgestellt wird, ist Katrins Entsetzen zum Glück nur von kurzer Dauer. Christine Oelschner, pflegerische Transplantationsbeauftragte im UKE, die Patient:innen vor und nach einer Herz- oder Lungentransplantation betreut, kann sie beruhigen: Eine Abstoßung sei im ersten Jahr nach einer Transplantation nicht ungewöhnlich.
Man müsse aber sofort reagieren und mit Medikamenten gegensteuern. Als Katrin in der Folgezeit wegen diverser Beschwerden, verdächtiger Blutwerte und Pfeifferschem Drüsenfieber wieder im UKE behandelt werden muss, streikt die Seele: „Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Aber Christine Oelschner hat mir immer wieder Mut gemacht.“
Die Freundinnen äußern sich begeistert über die umfassende Betreuung, die sie durch die pflegerische Transplantationsbeauftragte erfahren haben. Für Veronica war sie der rettende Hafen in einem Meer aus Ängsten und Sorgen, als sie im UKE auf ihr Spenderherz wartete und wegen Corona keinen Besuch empfangen durfte.
Endlich Pläne für die Zukunft schmieden
Die jungen Frauen sind glücklich über die Wendung in ihrem Leben, die sie den unbekannten Spender:innen verdanken. Beide haben dies in Briefen an die Angehörigen formuliert, die über die Stiftung Organtransplantation weitergeleitet wurden. Veronica möchte ihr neues Herz bestmöglich behandeln, aber auch ihr altes Herz würdigen. Ein Arzt hatte auf ihren Wunsch direkt nach der Transplantation ein Foto gemacht. Sie hat sich dann ein entsprechendes Tattoo stechen lassen.
Beide radeln täglich auf dem Hometrainer, nehmen Medikamente gegen Abstoßungsreaktionen des Körpers und vermeiden alles, was dem neuen Herzen schaden könnte. Und sie schmieden Pläne: Veronicas Herzenswunsch ist ein Kind. „Ich darf jetzt schwanger werden“, freut sie sich. Einen Wunsch hat sie sich nach Rücksprache mit dem Arzt bereits erfüllt, die junge Bolonka-Zwetna-Hündin „Pina“ sorgt seitdem für reichlich Bewegung an der frischen Luft. Katrin will im kommenden Jahr die Ausbildung zur Steuerfachgehilfin starten, die Zusage hat sie schon in der Tasche.
Die große Herzuntersuchung im UKE ein beziehungsweise zwei Jahre nach ihrer Transplantation haben die Freundinnen ebenfalls frühzeitig geplant: Sie haben ihre Termine koordiniert und gemeinsam ein Doppelzimmer reservieren lassen. Das UKE sei für sie ja schon „wie ein zweites Zuhause“ – eines, in dem man sich wohlfühlen könne.