Nachspielzeit
Kilian wirkt wie ein normaler Siebenjähriger: Er mag Fußball, Schokolade und Fernsehen. Und eine konkrete Idee für seinen späteren Beruf hat er auch schon: „Dinoknochen-Ausgräber“. Aber was ist schon normal, wenn man bereits im Grundschulalter sagen muss, man habe dem Tod ein Schnippchen geschlagen?
Kilian sagt solche Sätze nicht. Aber sie drängen sich auf, wenn man seinen Eltern Miriam und Marcel Ahrens zuhört. Im Gespräch mit den beiden wird deutlich: Die schwere Erkrankung des Kindes ist ein Trauma für die gesamte Familie. Sie ist eine prägende Erfahrung, die das Leben aller Beteiligten – und auch ihre Sicht auf das Leben an sich – dauerhaft verändert hat. Aber unabhängig davon, ob die Therapie gelingt oder nicht, scheint auch eine solche Katastrophe positive Seiten zu haben.
Der Anfang (vom Ende?)
Im Januar 2013 zertrümmerte die Diagnose „Hirntumor“ das Leben der Familie Ahrens wie ein Meteoriteneinschlag. „Ich bin nur rausgelaufen und habe geschrien“, sagt Mutter Miriam. An die weiteren Sätze des Arztes könne sie sich nicht mehr erinnern. „Das war, als ob man den Boden unter den Füßen verliert und fällt und fällt.“ Kein Stein blieb im Familienalltag danach auf dem anderen. Sie und ihr Mann hätten nur noch funktioniert und Beruf, Freizeit und Freunde der Behandlung untergeordnet. „Wir haben von Anfang an gesagt: Wir machen alles, egal wie.“ Und die Zeit drängte: Der Tumor war bereits so groß wie ein Hühnerei und drückte auf den Hirnwasserkanal. „Das war knapp. Im Grunde gab es nur die eine Wahl: Kilian operieren oder sterben lassen.“
Die Erfolgsaussichten für den Eingriff lagen nach Einschätzung der UKE-Ärzte bei knapp zwölf Prozent. „Ich habe mich vor der OP so von Kilian verabschiedet, als ob ich ihn nie wiedersehen würde. Dann begann das Warten – sieben Stunden lang.“ Die ganze Familie habe zusammengesessen. Niemand sprach. „Und dann, als endlich das Telefon klingelte, konnte ich aus Angst nicht rangehen.“ Erst als sie Kilian auf der Intensivstation habe sehen können, habe sie wieder „funktioniert“. „Und ich habe geweint“, sagt der Vater. „Aus Kilians Kopf hingen Schläuche. Ihn so hilflos zu sehen, hat mich geschockt.“
Operation, Strahlen- und Chemotherapie
Ein paar Tage nach der OP lag das Ergebnis der Tumoruntersuchung vor: ein ATRT, ein atypischer teratoider rhabdoider Tumor. ATRT sind seltene, aggressive Hirntumore, die hauptsächlich bei Kindern unter drei Jahren vorkommen. Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft haben diejenigen Kinder die besten Überlebensaussichten, deren Tumor bei der Diagnose lokal begrenzt ist und die mit einer dreigleisigenTherapie behandelt werden können: einer Operation, an die sich eine Chemo- und eine Strahlentherapie anschließen.
Chemo- und Strahlentherapie: Für die Eltern eines Kleinkindes kann das eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe sein. Vor allem, wenn die Behandlung wie bei Kilian dem Muster „Zwei Schritte vor und einer zurück“ folgt. „Ich glaube, wir haben alle Nebenwirkungen mitgenommen, die es gibt“, sagt Marcel. Dazu zählten auch eine Not-OP und aufgrund einer Virusinfektion ein längerer Aufenthalt auf der Isolierstation. „Wir haben es uns da in unserem kleinen Gefängnis irgendwie schön gemacht“, sagt Miriam und lacht. Die Pflegekräfte und die anderen Eltern wurden so fast zu einem Teil der Familie.
Heute: heiter bis wolkig
Aufgeatmet habe sie das erste Mal im Oktober 2013, kurz nachdem der letzte von insgesamt neun Chemotherapiezyklen überstanden war. Heute, fünf Jahre nach dem Ende seiner dreigleisigen Behandlung, darf sich Kilian zur glücklichen, noch lebenden Hälfte der ATRT-Patienten zählen. Er hatte – wie man in solchen Fällen gerne sagt – Glück im Unglück. Sein Tumor war gut zu operieren, Strahlen- und Chemotherapie brachten das erhoffte Ergebnis. Die Folgen der Behandlung werden die Ahrens aber nicht los: „Wir wollen schon auch streng sein. Aber das schaffen wir nicht. Wir verwöhnen Kilian auch viel zu häufig“, sagt Miriam, gelernte Sozialpädagogin. „Aber ich bin halt eine Krebsmutter.“
Die Wertigkeiten in der Familie haben sich durch die Krankheit verschoben. „Wir unternehmen fast jedes Wochenende etwas und genießen die Zeit zusammen“, ergänzt Marcel. Die Zeit. Sie ist auch ein Problem für die Ahrens. Die Furcht, dass das Schicksal wie ein Schiedsrichter zur Pfeife greift und ihrem „Spiel“ ein Ende macht, hängt wie eine Gewitterwolke über dem Familienglück. „Oft denke ich bei unseren Unternehmungen: Wenn der Krebs wieder kommt, kann es vielleicht die letzte Reise gewesen sein“, sagt Marcel. Miriam nickt. Aber warum sollten sie nicht endlich einmal Glück haben?
Text: Arnd Petry
Fotos: Axel Kirchhof