Aufgeben ist keine Option

Sie sind selten und äußerst perfide: Leukodystrophien. Die Stoffwechselkrankheiten werden durch einen winzigen Genfehler ausgelöst und zerstören unaufhaltsam die weiße Gehirnsubstanz. Betroffen sind meist Kinder wie der kleine Toni, der innerhalb von Wochen motorisch alles verliert, was er zuvor gelernt hatte.

Konzentriert baut der vierjährige Piet an seinem Lego-Alsterdampfer und setzt feierlich den letzten Stein. „Schau mal, Toni“, ruft er seinem jüngeren Bruder zu, der die Bauphase aufmerksam vom Schoß seines Vaters Arne verfolgt. Seine Finger hält er dabei fest umklammert und kommentiert das Bauwerk mit fröhlichen „Ohs“ und einem strahlenden Lächeln.„Du möchtest mitspielen“, lacht Mutter Jasmine und streicht ihrem Sohn über die Wange.

Toni kann nicht mitspielen, da er kaum in der Lage ist, sich zu bewegen.
Am liebsten ist Toni mitten im Geschehen

Doch Toni kann nicht mitspielen, da er kaum in der Lage ist, sich zu bewegen. Seine Arme, Hände und Beine gehorchen ihm nicht, seine Lippen können keine Worte formen. Im Sommer wird Toni zwei Jahre alt. Mit sieben Monaten wurde bei ihm das Aicardi-Goutières-Syndrom diagnostiziert – eine seltene, erblich bedingte Stoffwechselstörung, die zur Gruppe der Leukodystrophien gehört. Sie greifen die weiße Gehirnsubstanz an und zerstören so Stück für Stück das zentrale Nervensystem in Gehirn und Rückenmark. Im Verlauf verlieren die Kinder alle wichtigen Fähigkeiten wie Laufen, Sitzen, Greifen, Sehen, Sprechen und Schlucken. Therapien existieren derzeit kaum.

Allein sitzen kann Toni nicht

Wenn Jasmine und Arne über die Krankheit ihres Sohnes sprechen, begegnet ihnen häufig Mitleid. „Das möchten wir gar nicht“, sagt die Mutter. „Wir genießen unsere Familienzeit, wenn auch anders, als wir es uns vielleicht ausgemalt hatten.“ Woran beiden viel mehr liegt, ist Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen wie der von Toni, die weltweit nur einige hundert Mal beschrieben ist. Entsprechend wenig ist bekannt über Behandlung und Verlauf – und entsprechend wichtig ist es, diese Krankheiten weiter zu erforschen, um betroffenen Kindern in Zukunft besser helfen zu können.

Dass mit ihrem kleinen Sohn etwas nicht stimmen könnte, fällt den Eltern schon früh auf. „Mit vier Monaten konnte Toni immer noch nicht greifen und interessierte sich kaum für Spielzeug“, erinnern sie sich. Der Kinderarzt versucht zu beruhigen. Tatsächlich ist Toni Gleichaltrigen motorisch teils sogar voraus, kann sich früh drehen und fängt mit sechs Monaten an zu robben. Doch die Probleme nehmen zu. „Plötzlich wurde Toni sehr irritierbar, fing schrill an zu schreien, wenn es ihm zu viel wurde, und warf sich nach hinten. Das kannte ich nur aus Wutphasen seines großen Bruders, nicht aber in diesem Alter“, sagt Mutter Jasmine. Nach einem Magen-Darm-Infekt mit sieben Monaten spitzt sich die Lage zu. „Toni schlief höchstens noch eine Stunde am Stück, dann schreckte er auf und brüllte, oft reagierte er gar nicht mehr auf uns.“ Auch das Trinken an der Brust klappt auf einmal nicht mehr. „Als hätte er es verlernt“, so Tonis Mutter. Innerhalb eines Wochenendes verliert ihr Sohn 800 Gramm Gewicht. Nicht zu wissen, was ihm fehlt, ist für die Eltern am schlimmsten. Doch dann ein erster Hinweis: eine auffällige Blutprobe, Toni wird an eine Kinderneurologin überwiesen. „Ihr genügte ein Blick auf unser schreiendes, völlig überreiztes Baby, und sie informierte direkt die Neurologie des Kinder-UKE“, erzählt Jasmine.

Normalität ist beiden wichtig. Mit Karussell und Kita, die Toni seit kurzem besucht
Normalität ist wichtig

In den darauffolgenden Tagen nehmen die UKE-Ärzt:innen Toni genau unter die Lupe. Sie untersuchen seine Hirn- und Herzfunktion und checken Magenschleimhaut sowie Blutwerte. Damit er wieder zu Kräften kommt, erhält Toni eine Nasensonde, über die Flüssigkeit und Nahrung fließen. Die entscheidende Spur liefern schließlich die Bilder des MRT. „Die Ärzt:innen sahen, dass Tonis motorische Zentren im Gehirn verkalkt und verändert waren. Eine klare Diagnose gab es erstmal nicht“, sagt Jasmine. Es seien weitere, gendiagnostische Analysen notwendig, heißt es. Jede Nacht leidet Toni an schweren Krampfanfällen und muss in der Kinder-Notaufnahme versorgt werden. Schlafen tut er fast gar nicht mehr. Als er nach einer Woche nach Hause darf, hat der kleine Junge fast alles motorisch bisher Erlernte verloren. Wenig an seinem Körper kann er mehr ansteuern. Nicht einmal seinen Kopf. Mit acht Monaten ist Toni wieder hilflos wie ein Neugeborenes.

Dr. Annette Bley lernt die Familie vier Wochen später kennen, nachdem die Diagnose feststeht. Seit acht Jahren leitet die Stoffwechselexpertin im Kinder-UKE die Spezialsprechstunde für Leukodystrophien. Die Eltern erfahren, dass sie beide ein defektes Gen in sich tragen, das bei Toni das Aicardi-Goutières-Syndrom vom Typ 6 ausgelöst hat. Sie erfahren auch, dass sich bei dieser Erkrankung das Immunsystem beim kleinsten Infekt gegen Tonis eigenen Körper richtet und das Myelin im Gehirn angreift. Man erklärt ihnen, dass Kinder mit Leukodystrophien zwar motorisch schwer beeinträchtigt, doch kognitiv auf einem deutlich besseren Entwicklungsstand sind. Und dass es bislang keine zugelassene Therapie gibt. „Einer meiner ersten Gedanken war: Wir brauchen jetzt Hilfe“, erinnert sich Mutter Jasmine. „Plötzlich gab es so viel zu tun – häusliche Pflege beantragen, Therapeuten finden, medizinische Nachsorge organisieren – wir wussten gar nicht, wo wir anfangen sollten.“ Der psychosoziale Dienst des UKE sowie die Stiftung Kinderlotse helfen der Familie, sich neu zu orientieren.

Dr. Bley und ihrem Team fällt die Überbringung solcher Diagnosen bei aller Professionalität bis heute schwer. In ihren Sprechstunden sieht sie auch Kinder, die bis ins Grundschulalter Fußball spielten oder Ballett tanzten und heute ans Bett gefesselt sind. „Diese Kinder erleben den Verlust ihrer motorischen Fähigkeiten bewusst mit und sind wie gefangen im eigenen Körper. Ihr Leid ist oft unermesslich“, sagt Dr. Bley. Zugelassene Behandlungen gibt es bisher nur für drei der insgesamt rund 50 bekannten Leukodystrophien. Alle betroffenen Kinder werden im UKE medizinisch engmaschig begleitet – durch regelmäßige Check-ups, individuelle Heilversuche sowie konkrete Unterstützung bei der Hilfsmittelversorgung. Auch die Forschung und internationale Zusammenarbeit spielen im Kampf gegen die seltenen Erkrankungen eine entscheidende Rolle. „Wir sind sowohl innerhalb des UKE als auch international sehr gut mit anderen Fachbereichen und Kliniken vernetzt, tauschen uns aus und arbeiten in zahlreichen Forschungsprojekten zusammen“, sagt Dr. Bley. Bei so geringen Fallzahlen komme man nur gemeinsam weiter, um therapeutische Antworten zu finden. Finanziell unterstützt wird die hochspezialisierte Abteilung durch Spenden ans UKE und an den Freundeskreis des UKE für Kinder mit Demenz (Infos: www.fk-kindermitdemenz.de ).

Ein Jahr nach seiner Diagnose hat Toni motorisch wieder Fortschritte gemacht
Toni macht motorisch wieder Fortschritte

Nachdem sich die Freude um den Alsterdampfer aus Legosteinen gelegt hat, schaut Toni jetzt mit großen Augen dem Luftballon nach, den sein Bruder durchs Wohnzimmer stupst. Ein Jahr nach seiner Diagnose hat der fast Zweijährige motorisch wieder Fortschritte gemacht. „Seit Toni im August letzten Jahres im UKE eine PEG-Sonde zur künstlichen Ernährung erhielt, ging es bergauf“, erzählt Jasmine. Davor sei das Thema Essen purer Stress gewesen. „Toni war viel zu dünn für sein Alter, doch er aß nicht. Weil er es einfach nicht konnte.“ Jeden Löffel Nahrung befördert er mit seiner Zunge wieder nach draußen. Heute kann Toni sogar wieder Brei schlucken. Dafür hat er viel trainiert. Einmal die Woche arbeitet er mit einer Logopädin an seiner Mundmotorik. In der Physiotherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, soll Toni langsam wieder lernen, seine Gliedmaßen anzusteuern. Auch zu Hause wird täglich mehrmals geübt. „Ein weiteres großes Thema ist Tonis Angst gegenüber Fremden.“ Am wohlsten fühlt er sich auf dem Arm seiner Eltern. Ist er für einen Moment allein oder kommen ihm andere Erwachsene zu nah, fängt er an zu schreien. „Ohne uns wird Toni schnell panisch, weil ihm wohl bewusst ist, wie ausgeliefert er ist“, erklärt Jasmine.

Vor ihr liegt ein gut gefüllter Ordner, der mit „Toni“ beschriftet ist und seine gesamte Krankengeschichte enthält. Besonders dick ist der Teil zu „Anträgen“. Spezialbuggy, Fütterstuhl, Therapien – alles muss eingereicht und von der Krankenkasse genehmigt werden. Auch die Medikation, mit der Toni behandelt wird – eine sogenannte Off -Label-Therapie. „Es handelt sich um ein Präparat, das für bestimmte Krankheitsbilder zugelassen ist, im Fall von Aicardi-Goutières jedoch noch als individueller Heilversuch gilt“, erläutert Dr. Bley. Das Medikament sorge dafür, das bei Tonis Erkrankung überregulierte Immunsystem herunterzufahren und daran zu hindern, seinen Körper weiter anzugreifen.

„Herausforderung dabei ist, das Immunsystem so einzustellen, dass Tonis Körper stark genug bleibt, um Viren oder Keime verlässlich abzuwehren“, so die Stoffwechselexpertin. Die Werte werden im Rahmen der Leukodystrophien-Sprechstunde regelmäßig überprüft. „Bis jetzt sieht alles gut aus“, freut sich Tonis Mutter. Nach dem ersten, heftigen Krankheitsschub im letzten Jahr sei ihr Sohn stabil.

Seit kurzem besucht Toni mit seinem Bruder eine Kita
Seit kurzem besucht Toni mit seinem Bruder eine Kita

So viel Normalität und Lebensfreude wie möglich wünschen sich Jasmine und Arne für ihre beiden Kinder. Seit kurzem besuchen diese gemeinsam eine integrative Kindertagesstätte. Dort hat Toni eine Heilpädagogin und eine Physiotherapeutin an seiner Seite. Er freut sich über die anderen Kinder und lacht viel. Auch wenn seine Eltern nicht an Wunder glauben, so hoffen sie doch für alle betroffenen Kinder auf neue Erkenntnisse aus der Forschung – um die Abwärtsspirale bei Leukodystrophien irgendwann stoppen zu können.

Text: Nicole Sénégas-Wulf; Fotos: Eva Hecht

Weitere Infos zur Leukodystrophieforschung finden Sie unter www.uke.de/leuko

Hier können Sie spenden:
UKE gemeinnützige GmbH
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE 54 200 50550 1234 363636
BIC: HASPDEHHXXX
Verwendungszweck: Leukodystrophie1442/001