„Hallo, ich bin Lausi und seit 16 Jahren chronisch krank.“
Mit diesen Worten stellt sich Betina Neuman (33) auf Twitter vor. 5000 Follower begleiten sie inzwischen durch ihren Alltag mit Multipler Sklerose. Sie machten der jungen Mutter Mut, als ihr nur noch eine Hoffnung blieb: eine Stammzelltransplantation. Heute lebt sie mit neuem Immunsystem – und vielen Plänen für die Zukunft.
Nein, nicht schon wieder, aber Betina Neumann kann nichts dagegen tun. Gegen die Angst, die in ihr hochsteigt und ihr fast die Luft nimmt. „Angst!“ hat sie neulich erst getwittert, als es wieder im kleinen Finger kribbelte. Sie weiß: Das Kribbeln muss nichts bedeuten. Aber wenn doch? Wenn es wieder losgeht? Wenn auch die neuen Immunzellen wieder die Nerven attackieren, noch mehr Fasern zerstören? Wenn es wieder ein Schub ist? Wenn…
Stopp! Sie will das nicht zu Ende denken, nicht zurückgehen in den Januar, als ihr die Ärzte in München kaum noch Hoffnung machen konnten: „Frau Neumann, es tut uns leid, aber Ihre Multiple Sklerose ist sehr aggressiv. Es gibt keine Medikamente mehr, die verlässlich und nebenwirkungsarm helfen können.“ Kaum noch Hoffnung, mit 32. Zu Hause wartete ihr Mann mit den drei Jungs. Vor drei Jahren hatte sie Vincent, ihren Ältesten, noch im Kinderwagen um den See geschoben – 2000 Meter am Stück. Seine 18 Monate jüngeren Brüder – die Zwillinge Dominik und Niklas – kennen ihre Mama nur mit Stock. 180 Meter in sechs Minuten – ein gesunder Mensch ist mehr als doppelt so schnell. Und nun?
Inzwischen sind Monate vergangen, aber jedes Mal, wenn es im Finger kribbelt, ist in ihrem Kopf wieder Januar. „Wer so lange krank ist wie ich, horcht wohl immer in seinen Körper und sorgt sich, dass wieder ein Schub kommt“, sagt Betina Neumann und ärgert sich. Sie ist doch eine Kämpferin, eine, die nie aufgibt. Warum immer wieder über den Januar reden? Besser über die Hoffnung sprechen, schon einen Monat später – im Februar. Denn nach dem Schock kam doch noch eine Chance. Kein Medikament, aber eine Therapie.
Betina Neumann hat einen Weg gewählt, der bisher in Deutschland nur selten praktiziert wird. Eine Stammzelltransplantation für MS-Kranke, denen Medikamente nicht mehr helfen können. Rund 12 500 sind das in Deutschland, bis zu fünf Prozent aller MS-Patient:innen. „Ich habe mein krankes Immunsystem gekillt“, sagt sie. Ersetzt hat sie es durch ein neues, hoffentlich besseres. Für die Chance auf ein Leben ohne weitere Schübe.
Die angehende Biologin hat ihre Krankengeschichte auf Twitter geteilt, unter #Lausbubenmama, kurz Lausi. In ihrem Account grüßt ein winkender Emoji mit dem Spruch:„Humpelt mehr als zu Laufen.“ Dann folgt der Hashtag „#fuckMS“, dann der Hinweis auf die „autologe Stammzelltransplantation 3/22“,die ihr Leben grundlegend umgekrempelt hat.
Lausi lost her Myelin@Lausbubenmama
Zu twittern ist für Betina Neumann auch eine Art von Therapie; nicht allein zu sein mit der Krankheit, anderen Mut zu machen, aber auch sich selbst. Sie war 17, als sich die MS in ihrem Leben anmeldete. Bei einer Fahrstunde flimmerte plötzlich ihr linkes Auge, der Gegenverkehr versank in Blitzen – so fängt die Krankheit bei vielen an. Sofort anhalten, Pause, Besuch beim Augenarzt. Der schickte sie in die Klinik. Da kam die Diagnose: Multiple Sklerose. Damals hat sie nicht begriffen, was passiert, hatte keine Ahnung von MS, wusste nicht, dass eine Autoimmunerkrankung für immer bleibt. „Hätte ich überrissen, was es bedeutet, hätte ich viel früher Medikamente genommen. Vielleicht wäre es dann gar nicht so weit gekommen“, sagt sie heute.
Als Betina Neumann 15 Jahre später, im Januar 2022, von den Ärzten nach Hause kam, hüpften ihr die Kinder fröhlich entgegen. Küsschen, Abendessen, Gutenachtgeschichte. Als sie im Bett lagen, klappte Betina Neumann mit ihrem Mann, einem Arzt, den Laptop auf und googelte. Irgendwas musste es doch noch geben. Irgendwie war es doch immer weiter gegangen. Betina Neumann konnte keinen Wäschekorb mehr in den Keller tragen, die Kinder nicht mehr aus dem Planschbecken heben, kein Nudelwasser mehr abgießen. „Aber das Leben gibt mir unendlich viel zurück“, sagt sie. „Und wenn du nicht glücklich bist, musst du daran arbeiten, dass du wieder glücklich wirst.“ Neumann, die Kämpferin. Auch wenn das Glück im Januar nur noch aus der Schachtel mit den Antidepressiva kam.
In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Multiplen Sklerose sind alle Therapieformen aufgelistet, mit denen die chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) behandelt werden kann. KLICK. Irgendwo tauchte der Begriff „autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation“ auf. KLICK. Sie recherchierten weiter. Was ist eine Stammzelltransplantation? Wann wird sie durchgeführt? Wie gefährlich ist die Chemotherapie? Rechtfertigt ein möglicher Erfolg die Risiken? KLICK. KLICK. KLICK.
Schließlich stieß das Ehepaar auf Veröffentlichungen des UKE, eine der wenigen Kliniken in Deutschland, in der diese Methode seit Jahren praktiziert und immer weiter optimiert wird. Dabei wird das falsch programmierte Immunsystem auf Null heruntergefahren. Ein Reboot wie bei einem Computer, der nach Hackerangriffen komplett neu aufgesetzt wird. Da war sie: die Chance, die Hoffnung. Betina Hofmann sagt: „Für mich die letzte Option.“
Tage später hatte sie eine Videokonferenz mit Prof. Dr. Christoph Heesen, dem Leiter der MS-Ambulanz im UKE. 14 Tage später saß sie mit ihrem Mann im ICE von München nach Hamburg: Vorbesprechung für eine Transplantation. „Je jünger die Patient:innen, umso größer die Chance, die Krankheit mit einer Stammzelltransplantation oft auf Jahre in den Griff zu bekommen“, sagt Prof. Heesen, dessen Team eng mit der Interdisziplinären Klinik für Stammzelltransplantation zusammenarbeitet. „Schwerwiegende Komplikationen hat es bisher bei keiner Behandlung gegeben“, resümiert dessen Leiter Prof. Dr. Nicolaus Kröger. Doch weil es bisher zu wenig belastbare Daten zu Erfolg und Risiken gibt, übernehmen Krankenkassen die rund 50.000 Euro Behandlungskosten eher selten – wie bei Betina Neumann. Sie kam sozusagen in letzter Minute. „Ist das Nervensystem bereits zu schwer geschädigt, schränkt dies den möglichen Behandlungserfolg deutlich ein und die Transplantation kann nicht mehr empfohlen werden“, sagt Heesen.
Mitte Februar startete für Betina Neumann die Therapie in Hamburg. Zunächst die Mobilisierungsphase, eine Woche lang: Nach einer einmaligen Chemotherapie wird ihr ein Hormon gespritzt, das die Stammzellen aus dem Knochenmark ins Blut lockt. Diese werden aus dem Blut gefiltert und schockgefroren; zwei Wochen später die Hochdosisphase. Dabei löscht eine radikale Chemotherapie das fehlgesteuerte Immunsystem aus. Anschließend werden die Stammzellen wieder eingesetzt, die dann ein neues Abwehrsystem aufbauen. In dieser Phase ist der Organismus extrem geschwächt. „Die Trennung von meiner Familie war in dieser Zeit für mich am schwersten“, erinnert sich Neumann; den Abschied von ihrem alten Immunsystem konnte sie dagegen kaum erwarten. Ihre Twitter-Gemeinde war die ganze Zeit live dabei.
18. März: „Das war’s nun also. Das war der letzte Tag mit meinem alten Immunsystem. Danke für nichts und ciao! Ich weine keine Träne um Dich.“ Und: „Morgen geht es endlich los. Fast 15 Jahre Krankheit sind genug.“ Der Kampf hatte begonnen. Hoffnung!
19. März: „Die erste Chemo ist drin. Mir geht es soweit gut. Tabula rasa. bitte. danke!“ Am selben Tag bekam sie von ihrer Freundin den ersten Witz. „Jeden Tag einen“, hatten sie vereinbart. Weil sie natürlich wussten: Die drei Wochen würden nicht witzig werden.
Das zeigte schon der nächste Tag, 20. März: „Bin aufgewacht mit fieser Übelkeit. Nächste Infusion läuft. Hab‘ das langfristige Ziel weiter vor Augen.“
21. März: „Schlaff, kaputt, übel, keinen Appetit.“
22. März: „Letzte Chemo ist drin: Geschafft!“
23. März: „Heute ist mein Stammzellgeburtstag. Ich bin schon ein bisschen aufgeregt.“ Später: „Mir geht’s super.“
Stammzellgeburtstag, das hieß: Das alte Immunsystem war zerstört, die zuvor entnommenen Stammzellen wurden zurückgegeben. Diese sogenannten Mutterzellen sind in der Lage, neue Blutkörperchen und Blutplättchen zu bilden – und ein neues Immunsystem. Das dauert einige Zeit. Die Antwort ihrer Twitter-Follower: Happy Birthday, Lausi. Hunderte Mutmach-Smileys mit geballten Fäusten, angespannten Bizeps, Kleeblättern, Kussmündern, Herzchen.
25. März: „Ich starte mit `nem ordentlichen Infekt in den Tag. Antibiotika. Stammzellen, könnt ihr Euch ein bisschen beeilen, bitte!“
27. März: „Fieber ist weg, Fieber kommt wieder. Nicht mal Schokolade möchte ich gerade essen.“
Die kritische Phase: Kein Besuch, Schonkost, selbst das Öffnen der Fenster ist wegen der Keime verboten. Stattdessen Videotelefonate mit zuhause, Kinderaugen, die sie anstarrten, Kinderfragen, weich und hart zugleich: „Mama Du Hause?“ „Du immer krank?“
29. März: „Ich kann mein Bein wieder besser bewegen. Oh mein Gott, ich bin so aufgeregt, hoffentlich bleibt es jetzt für immer so. Ich hab’s ausgesprochen. Ich drücke mir so fest die Daumen.“ – Drei Rufzeichen, zwölf Smilies. Auch wenn´s nach ein paar Tagen wieder schlechter geworden ist.
5. April: „Ich bin raus (aus der Klinik). Meine Mama hat mich abgeholt. Ich muss ein Band vor dem Ausgang durchschneiden und meine Mama sagt dabei laut: Ich nehme das Geschenk der Heilung mit in mein Leben.“
Drei Monate später: An einem Freitagnachmittag tobt bei den Neumanns in München der ganz normale Wahnsinn. Die Jungs laufen treppauf, treppab durchs Haus. Kein Wetter für Rutsche und Trampolin im Garten. Betina Neumann schnipselt Obst. Vincent sucht sein Fernglas. Seine Mutter hat einen Tipp: „Vielleicht auf der Fensterbank?“
Hätte sie nicht stoppelkurze Haare, könnte man denken: falsche Adresse. Zu viel Normalität. Zu viel Glück. Über dem Küchentisch hängt eine Happy Birthday-Girlande, aber nicht für ihren Stammzellgeburtstag. „Heute bin ich seit vier Jahren Mama“, hat sie stolz in ihre Lausi-Gruppe getwittert. Vincent kommt zurück, sucht seinen neuen Rucksack. „Vielleicht in der Küche?“ Die Mutter sieht hinterher. Als sie in die Klinik fuhr, hat er geschrien: „Mama nicht weggehen.“
Niklas hat eine Rotznase, Dominik Bläschen an der Lippe. „Vermeiden Sie Infektionen. Ihr neues Immunsystem hat noch zu wenige Abwehrkräfte“, hat Prof. Heesen im Abschlussgespräch geraten. Sie fragt: „Wie soll das gehen, mit drei kleinen Kindern?“ Oma kommt ins Zimmer: „Wer will Fernsehen gucken?“ Yeaaaaaa! Oma ist oft da und hilft. Auch die anderen Großeltern und eine Elternassistentin – jeden Tag acht Stunden, weil Betina Neumann zu 80 Prozent schwerbehindert ist.
Und, wie schlägt sich das neue Immunsystem? Das ist eine Frage, die jetzt jeder Betina Neumann stellt, der sieht, wie sie mit den Kindern Laufrad fährt: die Jungs vorweg, sie sportlich hinterher – vor allem mit dem Lastenrad. Ihr Immunsystem? Ein Auf und Ab, ein Hoffen und Bangen.
Heilung? Betina Neumann weiß, das ist ein großes Wort. Es gibt Untersuchungen, die sagen, dass 80 Prozent der Transplantierten in den ersten fünf bis zehn Jahren keine Schübe mehr haben. Zwar werden jetzt erst belastbare Studien angeschoben und weitere Daten gesammelt, aber für die Zuversicht reichen die jahrelangen klinischen Erkenntnisse.„Dann bin ich 43.“ Sie lacht: „Gott, wie sich das anhört?“ Und hofft: „Dann sind bestimmt schon neue Medikamente auf dem Markt.“Auch Stillstand kann ein Fortschritt sein, bei MS sogar das Ziel. Betina Neumann steht auf. „Ich muss die Bande ins Bett bringen.“
Neulich hat es oben laut gerumpelt, dann kamen panische Schreie: „Mamaaaa!“ Da ist sie tatsächlich freihändig die Treppe hochgelaufen. Freihändig! Sie hat sofort dieTwitter-Community informiert. Aber später ist sie doch wieder in den Lavendelbusch gefallen, auch das Fingerkribbeln war wieder da. Übrigens: „Kein Schub, nur die verflixten geschädigten Nerven.“ Nervig, aber nicht zu ändern.
Also sich lieber auf den Kindergeburtstag freuen, mit 20 Gästen, Schokotorte und riesiger Hüpfburg mit Pool. Am Abend nach dem Event wird Betina Neumann, @Lausbubenmama, twittern: „Es gab eine große Wasserschlacht (Erwachsene gegen Kinder), später fällt Familie Lausi erschöpft aber glücklich ins Bett. ...ein perfektes Fest.“