Richtung Horizont
Die Ostsee hat es ihm angetan. Werner Poppe (74) kann sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als an Deck einer Segeljacht von der Lübecker Bucht aus durchs Wasser zu gleiten. Die Freude daran ist noch heute ungetrübt – obwohl Werner Poppe allen Grund hätte, Licht und Sonne zu verteufeln.
Das Mittagessen. Dorothee Poppe, 70, hat auf die Uhr gesehen. 13 Uhr. Wo blieb nur ihr Mann? Sie wusste nicht, warum sie so unruhig war. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er später kam. 13.15 Uhr. Der Tisch war gedeckt. Vielleicht ist er direkt vom Hautarzt in die Firma gefahren? 13.30 Uhr. So musste es sein. Zwei Leberflecke waren schließlich keine große Sache. Keiner größer als ein Stecknadelkopf. Obwohl: schwarz. 14 Uhr. Kein Auto. Dorothee Poppe rief im Büro an. Die Sekretärin war überrascht: „Nein, Werner ist nicht hier.“ Nächste Nummer, der Hautarzt. Die medizinische Fachangestellte am anderen Ende scherzte: „Der Arzt schnipselt noch an ihm rum. Der läuft nicht weg.“
Ein Witz. So fing alles an. Dorothee Poppe erinnert sich: „Alles klang ganz harmlos.“ Es war der 31. März 2017, ein Freitag. Sie war erleichtert, räumte den Tisch ab und packte die Koffer. Es war kurz vor Ostern. Damals wohnten sie noch in Kassel, wollten ein paar Tage an die Ostsee. Ihr Mann ist Segler. Das Wetter war schön. Ihre Tochter hatte sich angemeldet. Der Enkel wollte Ostereier suchen.
UV-Strahlen? Hautkrebs? Eine Prognose, die den Tod bedeuten kann? Solche Gedanken kamen ihr gar nicht. Und auch Werner Poppe, 74, machte sich keine Sorgen. Er erinnert sich nicht mal, ob er jemals einen Sonnenbrand hatte. Als seine Frau und er noch Kinder waren, cremte man sich nicht groß ein. Da gehörte es zum Sommer, wenn Rücken, Arme und Beine mal knallrot waren. Gebräunte Haut galt als schön – das ist heute noch so, obwohl Ärzt:innen schon lange vor zu viel Sonne warnen.
Die Haut vergisst Überdosis Sonne nicht
Ihre ultravioletten Strahlen dringen durch die obere Hautschicht, Epidermis genannt, und noch tiefer. Dabei können sie das Erbgut von Farbzellen, den sogenannten Melatoninen, verändern. Das kann überall passieren: beim Segeln, Wandern, Radfahren, bei Straßenarbeiten oder in der Landwirtschaft – die Haut vergisst die Überdosis Strahlen nicht. Spätestens im Rentenalter tauchen dann oft schuppige, unebene oder blutige Stellen am Körper auf. Immer häufiger auch schon bei jüngeren Erwachsenen.
Besonders bösartig ist das maligne Melanom, der schwarze Hautkrebs. Er wird jährlich bei rund
24.000 Frauen und Männern in Deutschland diagnostiziert. Bei den meisten Menschen wird er rechtzeitig entfernt. Daran glaubte auch Werner Poppe – zunächst. Poppe ist promovierter Jurist. Er weiß, wie wichtig Fristen sind. Deshalb hatte er sofort den Hautarzttermin seiner Schwiegermutter übernommen, als seine Frau die schwarzen Punkte auf seinem Rücken entdeckte. Er hat viele braune Leberflecken und damit ein erhöhtes Hautkrebsrisiko. Die zwei schwarzen Punkte ragten aber hervor – dunkel, an den Rändern zerfranst. Der Arzt sagte: „Die müssen raus.“ Poppe antwortete pragmatisch: „Dann am besten sofort!“ Glück: Zwei Patient:innen hatten abgesagt. Kurze Zeit später lag er auf dem OP-Tisch, keine Zeit für den Anruf zu Hause. Schneller geht´s eigentlich nicht.
Es war trotzdem zu spät. Der aggressive Krebshatte sich bereits in seinem Organismus eingenistet. Nur merkte Werner Poppe noch nichts von seiner Erkrankung: „Ich fühlte mich gut.“
Melanome wachsen schnell
„Besonders als Leberflecke getarnte Melanome sind bisweilen echte Killer, weil sie turboschnell wachsen und wandern können“, sagt Prof. Dr. Christoffer Gebhardt, der das Hauttumorzentrum im UKE leitet. Innerhalb von Wochen bis wenigen Monaten bilden sich Metastasen in Lunge, Leber, Gehirn und Knochen. Vor zehn Jahren war das für fast alle Betroffenen ein Todesurteil. Inzwischen hat die Wissenschaft große Fortschritte gemacht und bekämpft den aggressiven Krebs mit Immuntherapien. Dabei werden die Abwehrzellen des Körpers (T-Zellen) so aggressiv eingestellt, dass sie rücksichtslos gegen die Tumore kämpfen können. Als Werner Poppe erkrankte, waren solche Therapien in Deutschland gerade erst zugelassen. Heute sagt er: „Hätte ich nicht so gute Ärzte gefunden, wäre ich mit Sicherheit schon lange tot.“
Aber zurück zu den sonnigen Tagen im Frühling 2017, als er noch gar nicht wusste, was eine Immuntherapie, Checkpoint-Inhibitoren und PD1-Antikörper überhaupt waren. Während die Familie Poppe an der Ostsee Ostern feierte, brachte ein Kurier die Gewebeproben in ein Labor nach Gießen. Nach dem Urlaub klingelte das Telefon. Dorothee Poppe nahm ab. Die freundliche Vorzimmerdame des Hautarztes war dran. „Ist Ihr Mann zu Hause?“ War er nicht. Dorothee Poppe fragte: „Kann ich etwas ausrichten?“ Nein, das könne der Hautarzt nur mit ihm persönlich besprechen. Wer so etwas hört, wird unruhig.
„Superfiziell spreitendes und sekundär knotiges Melanom. Tumordicke 1,7 Millimeter“, steht im pathologischen Befund. Darüber ein Strichmännchen und zwei Pfeile, die auf die linke Schulter zeigen. 1,7 Millimeter, das erscheint für Laien winzig. Aber Dermatolog:innen werden hellhörig, wenn ein Tumor bereits so tief eingewachsen ist. Prof. Gebhardt sagt: „Anschließend beobachten wir oft einen explosionsartigen Verlauf.“ So war es auch.
Sieben Monate nach dem ersten Befund die schlechte Nachricht
Der Hautarzt wies Werner Poppe in die Klinik ein. Dort entnahmen Ärzte Schildwächterlymph-knoten. Der Befund war unauffällig. Aufatmen. Aber sieben Monate später war plötzlich die linke Achselhöhle geschwollen. Wieder die Lymphdrüsen, wieder eine Operation. Diesmal eine schlechte Nachricht: Das Melanom hatte gestreut. Die Ärzt:innen sprachen von einem Übertritt ins Stadium III. Das heißt: Es besteht ein hohes Risiko, dass die Erkrankung wiederkommt. Noch aber war kein inneres Organ befallen.
Empfohlen wurde ihm eine leitliniengerechte Nachsorge, prophylaktisch Bestrahlung. Doch Werner Poppe hatte inzwischen alles über den schwarzen Hautkrebs gelesen. Er glaubte nicht, dass er den schwarzen Feind in seinem Körper besiegt hatte. „Ich wusste, dass konventionelle Therapien den wandernden Tumor nicht aufhalten würden.“ Poppe ahnte: Würde kein Wunder geschehen, wäre sein Weg vorgezeichnet. Nach Stadium III würde Stadium IV folgen. Und dann blieben nur noch wenige Monate.
Dorothee Poppe glaubt an Schicksal, ihr Mann an Erfolg als Ergebnis von Planung und Arbeit. Am Ende brauchten sie beides,um durch diese schwere Zeit zu kommen.
Der Jurist war noch geschwächt von der Operation, als er zufällig einen Zeitungsartikel las: „Immuntherapien sind bessere Waffen gegen Hautkrebs.“ Sie geben Schwerkranken eine Fifty-Fifty-Chance. Die Fachwelt diskutierte noch über Nebenwirkungen und empörte sich über den Preis: 10.000 Euro für eine Infusion. Werner Poppe fragte sich: „Was bedeutet Geld, wenn es um Leben und Tod geht?“ Er hatte nur noch ein Ziel: „Ich musste jemanden finden, der mir das Medikament in die Vene jagt.“
Der Wille war stark: „Ich musste ein Problem lösen.“
Im Internet recherchierte er zu großen Tumorzentren, schrieb Professoren an. Kaum aus dem Krankenhaus, stieg er in den Zug, um Gespräche zu führen. Die Wunden waren noch nicht geheilt; egal, es ging nur noch ums Überleben. Dorothee Poppe begleitete ihn: „Er war ganz schön schwach.“ Aber der Wille stark. Werner Poppe sagt: „Ich musste ein Problem lösen.“ Dorothee Poppe nickt: „Ich war sicher, dass du es schaffst.“
Fünf Jahre später. Der Tisch ist wieder gedeckt. Diesmal gibt es Erdbeertörtchen mit Schlagsahne. Dorothee Poppe schenkt Kaffee nach. Das Ehepaar diskutiert: Sind Melanome Muttermale? „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ Sie haben beide recht, denn sie können sich verändern, müssen es aber nicht. In zwei Jahren feiern sie goldene Hochzeit. Freunde sagen: „Dann streitet ihr immer noch.“ Wer hätte gedacht, dass sie das einmal als Glück empfinden könnten. Dorothee Poppe ist überzeugt: „Du hast den Krebs besiegt, weil du so ein Sturkopf bist.“ In dem Punkt sind sich beide einig.
Auf dem Tisch liegen zwei Ordner mit der Krankengeschichte, darin auch der besagte Artikel. Er hat Poppe schließlich zu Prof. Gebhardt ins UKE geführt. Auch Gebhardts Lebenslauf ist ordentlich abgeheftet. Bevor der Onko-Dermatologe vor fünf Jahren nach Hamburg kam, arbeitete er als Oberarzt am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, hat intensiv die Entwicklung der Immuntherapie begleitet.
Metastasen in Gehirn und Lunge - doch die Hoffnung bleibt bestehen
Hoffnung und Verzweiflung. Bei keiner Krankheit liegen sie so eng zusammen wie bei Krebs. Vielleicht spricht Werner Poppe deshalb nicht gern über die vielen Hochs und Tiefs. Vieles hat er schlicht vergessen: auch den Moment, so kurz vor dem Ziel. Die Immuntherapie war zugelassen worden, die Krankenkasse wollte die Kosten übernehmen, und dann kamen die neuen CT-Bilder. Sie zeigten Metastasen in Lunge und Gehirn. Stufe IV. Professor Gebhardt erklärte: „Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Aber wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.“ Bevor die Therapie begann, haben sie die Metastasen dreidimensional mit Strahlen beschossen.
Eine Infusion dauert drei bis vier Stunden. Drei Wochen später die nächste, insgesamt vier am Stück. Seitdem nur noch einmal im Monat, bis heute. Die Nebenwirkungen waren anfangs heftig. Denn wenn Immunzellen ungebremst auf den Körper losgelassen werden, können sie sich auch gegen gesunde Haut, Lunge, Darm, Schilddrüse und andere Organe richten. Werner Poppe sagt: „Es ist schließlich kein Hustensaft.“ Die Tage kamen und gingen. „Ich habe einfach abgewartet.“
In ihrem Haus gibt es ein kleines Zimmer. Ein Sofa mit vielen bunten Kissen, ein Schreibtisch, ein Fernseher. Dort hat er viel Zeit verbracht. Manchmal hat Dorothee Poppe gesagt: „Draußen ist so ein mieses Wetter, gut, dass wir im Haus sind.“ Ein Versuch von Trost. Sie hat ein Krankentagebuch geführt. Ostern 2018: Die Kinder waren wieder da. Werner Poppe hatte eine Myositis entwickelt. Die Skelettmuskeln hatten sich entzündet. Er konnte keine Treppen mehr steigen. Hatte das alles noch einen Sinn?
Doch dann ging es plötzlich aufwärts. Heute sind die Metastasen weg, die Blutwerte top. Durch die Therapie ist ein Immungedächtnis entstanden, das selbst gut versteckte Tumorzellen aufspürt und zerstört. Prof.Gebhardt: „In solchen Fällen einer erfolgreichen Immuntherapie kann von einer funktionellen Heilung ausgegangen werden.“
Die Poppes sind inzwischen nach Timmendorf gezogen. Zu Ostern waren die Kinder wieder da. Im Hafen dümpelt das Schiff. Werner Poppe freut sich schon. An Mittsommer wird er mit seinen Freunden wie jedes Jahr in See stechen, Richtung Kopenhagen segeln.Vor Klintholm werden sie den Anker werfen. Er wird ihn morgens um vier Uhr lichten. Die Sonne wird aufgehen, das Wasser wird glitzern. Das Boot wird an den Kreidefelsen vorbeigleiten. Werner Poppe malt sich das schon aus: „Diese Ruhe. Diese Weite. Das ist so schön. Man kann es gar nicht beschreiben.“
Weitere Informationen und Anmeldungen zur Sprechstunde:
Universitäres Hauttumorzentrum Hamburg