Seynabous langer Weg
Viele Jahre ist er Seynabou Fayes ständiger Begleiter – der Schmerz. Die 17-jährige Senegalesin litt an einer schweren Knocheninfektion, die ihr Hüftgelenk komplett zerstörte. Hilfe fand sie erst in Deutschland.
Seynabou erinnert sich noch genau an jene Momente im November 2021. Ein gemütlicher Filmabend mit Freundinnen. Es wird gelacht, ein bisschen getuschelt, im Fernsehen läuft eine Komödie. Eigentlich normal für eine Teenagerin – für Seynabou aber etwas ganz Besonderes. Erst zwei Monate zuvor ist sie aus dem Senegal am United World College (UWC) in Armenien angekommen, einer internationalen Schule für Hochbegabte mit Standorten in der ganzen Welt, die Oberstufenschüler:innen bis zum Abitur führt. Im Internet wird Seynabou auf die Schule aufmerksam, bewirbt sich und erhält ein Vollstipendium. So lange hat sie davon geträumt, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, in der Schule hart dafür gearbeitet. Nun war sie also wirklich hier, zusammen mit 220 anderen klugen Köpfen aus 80 verschiedenen Nationen. Sie ist glücklich an diesem Abend – bereit, die Tür in eine neue Welt aufzustoßen und ihre Chancen zu nutzen. Doch plötzlich schießt ein Schmerz wie ein Blitz ins linke Bein und treibt ihr Tränen in die Augen. Seynabou kann nicht mehr aufstehen. Panik erfasst sie. War ihr der Schmerz aus ihrer Kindheit gefolgt?
Kennen tut sie ihn nur zu gut. Als sie zehn Jahre alt ist, gerät sie zum ersten Mal in seine Fänge. Damals lebt sie mit ihrem Vater, zwei Brüdern und einer Schwester in einem kleinen Dorf im westafrikanischen Senegal. Sie ist ein kluges und aktives Mädchen, das morgens extra früher aufsteht, um noch ein paar Runden um den Sportplatz zu drehen. Beim Fußball spielt sie am liebsten im Sturm, in der Schule ist sie Klassenbeste. Auch damals trifft sie der Schmerz wie aus heiterem Himmel. „Niemand konnte sich erklären, woher er kam“, erinnert sich Seynabou. Dumpf pocht er mit jedem Herzschlag in ihrer linken Hüfte und wandert weiter ins Knie, bis er das gesamte Bein erfasst. Erste Röntgenaufnahmen in einem nahe gelegenen Krankenhaus zeigen damals eine Deformation des Hüftgelenks. Für eine Operation sei sie zu jung, sagen die Ärzte, sie müsse wohl damit leben. Damit leben? Was bedeutet das für ein zehnjähriges Mädchen? Ein ganzes Jahr lang ist Seynabou komplett gehunfähig. Da es in ihrem Dorf weder Gehhilfe noch Rollstuhl gibt, kann sie das Haus nur verlassen, wenn ihre Brüder sie tragen. Seynabou versucht, dem Schmerz einen Platz zu geben. Sie orientiert sich neu, konzentriert sich von nun an voll und ganz aufs Lernen und versteckt sich am liebsten in den Geschichten ihrer Bücher. Dann bessert sich ihr Zustand etwas. Wahrscheinlich, weil sich die Entzündung verkapselt, sodass sie wieder gehen und den Unterricht besuchen kann. Zwar humpelnd, doch immerhin. Was bleibt, ist die Scham vor dem Anderssein. „Es war schwer für mich, mit den anderen Kindern nicht mehr mithalten zu können. Nur zuzuschauen, wenn alle rannten.“
Mithalten, das will Seynabou unbedingt. Zeigen, was sie kann, gerade jetzt am neuen College. Ist das nicht ihre Chance? An diesem Abend in den Bergen Armeniens holt sie die Vergangenheit mit aller Wucht wieder ein. Ihre Freundinnen verstehen sofort den Ernst der Lage und lassen Seynabou auf die Krankenstation des Internats bringen. „Man verabreichte mir alles, was der Arzneimittelschrank der Schule hergab, doch es wurde immer schlimmer“, erinnert sie sich. Nächtelang liegt sie weinend und wimmernd im Bett, bis man sie eine Woche später endlich ins Hauptstadt-Krankenhaus in Jerewan bringt. Doch auch hier findet sie trotz Hüftoperation, bei der eine Gewebeprobe entnommen und der Druck vom Bein genommen wird, keine Hilfe. „Niemand dort sprach Englisch, ich wusste gar nicht, was sie mit mir taten und fühlte mich dem Schmerz nur noch ausgeliefert“, erzählt Seynabou. Erschüttert darüber, ihre Freundin so leiden zu sehen, werden einige Schülerinnen des UWC selbst aktiv. Über den Ehemaligenverein des Schulnetzes starten sie ein weltweites Crowdfunding, um Seynabou eine Diagnostik und Therapie in Europa, Israel oder den USA zu ermöglichen. Die Teilnahme ist überwältigend, und innerhalb weniger Wochen kommt eine stolze Summe zusammen, am Ende sind es 32 000 Euro.
Im weit entfernten Deutschland erfährt Dr. Liv Fünfgeld von dem Spendenaufruf. Sie ist selbst UWC-Absolventin und seit 2004 als niedergelassene Allgemeinmedizinerin in Cottbus tätig. „Ich wandte mich direkt an die Schule für mehr Details und bemerkte rasch die dortige Hilflosigkeit gegenüber Seynabous Fall“, berichtet Dr. Fünfgeld.
Dank ihrer guten Kontakte im Schulnetzwerk gelingt es ihr, das Mädchen zu sich zu holen. Im Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus erhält Seynabou die erste, klare Diagnose: chronische Osteomyelitis (Knochenmarkentzündung) des linken Hüftgelenks sowie die vollständige Zerstörung des Hüftkopfes in Folge einer bakteriellen Infektion. Endlich war die Ursache gefunden, doch wer kann helfen?„In Cottbus konnte das niemand, und auch vier andere universitäre Kliniken lehnten den Fall ab“, so Fünfgeld. Das Infektionsrisiko nach einer Hüftgelenkimplantation sei bei diesen Entzündungswerten einfach zu hoch, eine Operation zu heikel, heißt es. Einige Häuser schlagen vor, Seynabous Hüfte im Gipsbett für drei Monatezu versteifen. „Das aber hielt ich für völlig unzumutbar für ein so junges Mädchen“, so Liv Fünfgeld.
Wenigstens den Schmerz kann sie für Seynabou etwas lindern, zuletzt allerdings nur noch durch starke Opioide. Parallel dazu fängt sie an, im Internet nach alternativen Heilmöglichkeiten zu recherchieren und trifft dabei auf einen ähnlich gelagerten Fall des UKE Mediziners Prof. Dr. Frank Timo Beil. Über Prof. Dr. Ansgar Lohse, ebenfalls UWC-Absolvent und Direktor der I. Medizinischen Klinik im UKE, nimmt Dr. Fünfgeld Kontakt auf. Seynabou erhält einen ersten Beratungstermin – es gibt wieder Hoffnung.
„Bei Prof. Beil spürte ich vom ersten Moment an, dass er mir wirklich helfen wollte. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung“, sagt die heute 17-Jährige. Das interdisziplinäre UKE-Team schlägt vor, den zerstörten Hüftkopf zu entfernen und nach einer sechswöchigen Antibiose eine Hüftprothese zu implantieren. Darauf sollten weitere sechs Wochen antibiotischer Behandlung folgen. „Um das Bakterium gezielt zu bekämpfen, erarbeiteten wir im Team gemeinsam mit den Mikrobiolog:innen und Immunolog:innen im UKE einen differenzierten Behandlungsplan“, erklärt Prof. Beil, Leiter der Orthopädie im UKE. Doch wie waren die Bakterien überhaupt in Seynabous Hüfte gelangt? „Das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Wir haben bei Seynabou einen Keim entdeckt, der klassischerweise bei kleineren Verletzungen auftritt. Sehr selten findet so ein Keim den Weg in die Blutbahn und kann sich dann im Gelenk absetzen.“
Seynabou selbst hat kein großes Interesse an Ursachenforschung. Sie will ihn einfach loswerden, diesen Keim, der ihr seit Jahren so unerträgliche Schmerzen bereitet. Im Juni 2022 ist es endlich soweit. Zwei Operationen sind nötig, um nicht nur den kranken Hüftkopf zu entfernen, sondern auch den Hohlraum im Oberschenkelknochen zur Verankerung der Prothese wieder herzustellen, der in Folge der jahrelangen Infektion vollständig zugewachsen war.
Wenige Tage nach der OP horcht Seynabou erstmals in sich hinein. Wo war das Hämmern, wo der pulsierende Schmerz? Natürlich waren die ersten Stunden nach dem Eingriff wirklich hart gewesen. Jetzt fühlt sie sich auch mit nur einem Hüftknochen richtig gut. Sie kann sogar wieder aufstehen und zurück nach Cottbus fahren. Nun heißt es: Daumen drücken, dass die Antibiotika, die sie sechs Wochen lang als Infusion oder Tablette erhält, anschlagen und die verbleibenden Bakterien definitiv ausschalten. In ihrer Gastfamilie fassen alle mit an. „Mein erwachsener Sohn spielte tagsüber, wenn ich in meiner Praxis arbeitete, Krankenpfleger und kümmerte sich um Seynabous Antibiotikagaben“, erzählt Liv Fünfgeld. Sie selbst erlebt in dieser Zeit eine völlige Verwandlung der Teenagerin. „Als Seynabou zu uns kam, war sie wie ein Grundschulkind, das am liebsten mit uns Uno spielte oder Comics las“, erinnert sich die Ärztin. Ihre gesamte Kraft schien in das Aushalten des Schmerzes zu fließen. „Jetzt fing sie an, über Politik zu diskutieren, vertrat ihre eigene Meinung und schmiedete Pläne für die Zukunft.“ Ja, Seynabou hatte ihr Leben zurück, das fühlte sie selbst. Obwohl die eigentliche Operation – die Implantation ihres neues Hüftgelenks – noch vor ihr lag.
Auch dieser Schritt verläuft reibungslos. Sechs weitere Wochen mit Antibiose später sitzt sie wieder in Prof. Beils Sprechstunde und schaut auf ihr Röntgenbild. „Ich war gar nicht aufgeregt. Innerlich spürte ich einfach, dass alles gut war.“ Und tatsächlich gibt es keine Spur einer Infektion, das Gelenk sitzt perfekt. „Dann geh doch mal ein paar Schritte“, fordert Prof. Beil sie augenzwinkernd auf, ohne wirklich selbst daran zu glauben. Doch Seynabou steht auf und bewegt sich zum ersten Mal nach einem Jahr ganz ohne Hilfsmittel durchs Zimmer. „Das war auch für uns Ärzte ein bewegender Moment“, gesteht Prof. Beil.
Heute ist Seynabou zurück in Armenien. Das einzige, was sie von ihrer Erkrankung noch spürt, ist Muskelkater. „Ich habe mein Bein ja jahrelang nicht benutzt und muss es an die Anstrengung erst wieder gewöhnen“, schmunzelt sie. In der Reha trainiert sie das Gehen. Ihre Krücken braucht sie nur noch für draußen. „Da werde ich sie aber auch noch los“, ist die Schülerin überzeugt. Wenn sie eines gelernt hat in den vielen Jahren ihrer Krankheit, dann ist es Geduld. Zu wissen, dass so viele Menschen um sie herum bereit waren, sich ohne Erwartung einer Gegenleistung für sie einzusetzen, gibt ihr die nötige Zuversicht. Vielleicht wird sie nicht wieder Fußball spielen und Tore schießen können - aber Radfahren, das wäre toll! Bis es soweit ist, will sie sich voll und ganz aufs Gesund werden und die Schule konzentrieren, um sich ihren großen Traum zu erfüllen: ein Studium in den USA.