Verbundene Zwillinge: Doppeltes Glück
Zehnte Schwangerschaftswoche, erste Ultraschallaufnahme: Auf dem Monitor sind zwei winzige Menschen zu sehen, kaum drei Zentimeter groß. Die Frauenärztin erkennt noch mehr: „Ihre Zwillinge liegen sehr nah beieinander.“ Möglicherweise seien die Embryos miteinander verbunden. Sie leitet das Ehepaar an einen Diagnostik-Spezialisten weiter. 23 Wochen später, im August 2023, kommen im UKE verbundene Zwillinge per Kaiserschnitt auf die Welt. Nach sieben Wochen werden die beiden Mädchen in einer Operation getrennt. Sie sind wohlauf.
Texte: Ingrid Kupczik, Fotos: Eva Hecht, privat
Eine feindiagnostische Untersuchung durch einen niedergelassenen Facharzt hatte die Vermutung der Frauenärztin bestätigt: Die Embryos teilen sich Fruchtblase und Plazenta. Sie haben zwei Herzen und sind am Bauch miteinander verbunden. Genaueres könne er den Eltern noch nicht sagen, so der Experte. „Wir waren im Schock“, berichtet die Mutter, die mit ihrem Mann bereits zwei Kinder hat. Ihre Tochter ist zu jenem Zeitpunkt drei Jahre alt, der Sohn ein Jahr. Alles war bis dahin gut gelaufen, die dritte Schwangerschaft war unkompliziert gestartet, doch nun gerät das Glück ins Trudeln.
Die Ungewissheit ist quälend; sie auszuhalten, erfordert Kraft und Mut. Unzählige Sorgen, Ängste, Fragen drängen sich auf: Die Körper verbunden, was kommt da auf uns zu? Kann man die Kinder überhaupt trennen? Muss womöglich ein Kind sterben, damit das andere leben kann? Und auch dies: Wie viel hält unsere Ehe aus? Werden wir stark genug sein für einen problematischen Verlauf, eine Schwerbehinderung? Das Ehepaar gibt sich bis zur 16. Schwangerschaftswoche Zeit, um sich mit diesen und weiteren Fragen intensiv auseinanderzusetzen. „Uns war es wichtig, eine wohlinformierte Entscheidung zu treffen“, sagt die Mutter. Dazu gehört auch die Information, dass die Trennung der verbundenen Babys im UKE und somit in der Nähe des Wohnortes vorgenommen werden kann. Das Paar bespricht sich mit den Eltern, die tatkräftige Unterstützung zusichern. „Das war eine enorme Hilfe für uns – und ist es immer noch.“
Besonders günstige Form verbundener Zwillinge
Parallel liefert die regelmäßige Feindiagnostik ein immer differenzierteres Bild – und Anlass zu wachsender Zuversicht: Von Mal zu Mal zeichnet sich auf dem Monitor des Ultraschallgeräts klarer ab, dass hier eine besonders günstige Form verbundener Zwillinge vorliegt. Die Föten besitzen alle lebensnotwendigen Organe unabhängig voneinander. Das gilt auch für die Lebern, nur sind diese nicht vollständig getrennt, sondern mittig verbunden. Blutgefäße, Gallenblasen, Zu- und Abflüsse sind beidseitig vorhanden. Prof. Dr. Kurt Hecher, Leiter der UKE-Klinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin, spricht von einer sehr guten Prognose.
„Wir sind froh und dankbar, dass wir keine Entscheidung für oder gegen das Leben treffen mussten“, betont der Vater. Das Ehepaar teilt einen starken christlichen Glauben – und eine ordentliche Portion Gottvertrauen. „Das hat uns nicht die Gewissheit gegeben, dass alles gut werden würde. Aber es hat uns einen Frieden gegeben, sodass wir uns entscheiden konnten, diesen Weg zu gehen“, sagt die Mutter. „Wir wussten, wir geben unser Bestes und versuchen alles für das Leben unserer Kinder, aber letztendlich liegen ihre Leben in Gottes Hand, und er hat das letzte Wort.“
Kaiserschnitt-Geburt verläuft reibungslos
In der 33. Schwangerschaftswoche werden die Mädchen planmäßig per Kaiserschnitt entbunden. Der Eingriff ist minuziös vorbereitet worden. „Es ist schon eine besondere Herausforderung“, sagt Klinikleiter Prof. Hecher. Bei einer Einlingsschwangerschaft müsse nur ein Kopf durch die Öffnung der Gebärmutter passen; ebenso bei Zwillingen, die nacheinander auf die Welt geholt werden. „In diesem Fall aber waren es zwei Kinder gleichzeitig.“ Dies erfordere andere Handgriffe. Die Entbindung wurde von zwei Teams aus Hebammen, Geburtshelfer:innen, Neonatolog:innen, Fachgesundheits- und Kinderkrankenpflegenden und Anästhesist:innen unter der Leitung von Prof. Dr. Hecher und Oberärztin Dr. Bettina Hollwitz, stellvertretende Direktorin der Klinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin, durchgeführt. In einer Stellprobe waren zuvor Ablauf und Positionen überprüft worden. Die Kaiserschnitt-Geburt verläuft reibungslos. Bei einer Körpergröße von 43 cm bringen die frühgeborenen Mädchen gemeinsam 3600 g auf die Waage.
Kein vergleichbarer Fall bekannt
Für alle Beteiligten ist dies eine Premiere – in der Geschichte des Klinikums ist kein vergleichbarer Fall bekannt, denn verbundene Zwillinge sind eine sehr seltene Laune der Natur. Auch für die Pflege ist diese Geburt ohne Beispiel. „Wir hatten aber die glückliche Situation, dass im Jahr zuvor die Jahrestagung der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin im UKE stattgefunden hatte“, berichtet Mandy Lange, Stationsleitung der Intensivstation für Früh- und Neugeborene. Ein Team aus Köln stellte einen nahezu identischen Fall vor. „Wir haben dann direkt zu ihnen Kontakt aufgenommen und konnten deren Erfahrungen bei der Erstversorgung unserer verbundenen Zwillinge nutzen.“
Schon Tage vor der Geburt wurde die Technik im Erstversorgungsraum und auf der Intensivstation für Früh- und Neugeborene so positioniert, dass der Zugang zu den medizinisch-technischen Geräten – für Infusionen, Atemunterstützung, Monitoring – jederzeit erreichbar war. „Wir hatten ja doppelt so viele Geräte, Kabel und Zuleitungen an einem Bett wie üblich. Da muss man zusehen, dass man den Überblick behält.“ Zwilling 1, Zwilling 2, alles wird beschriftet, um Verwechslungen auszuschließen. Zwei Pflegekräfte kümmern sich um die verbundenen Babys.
Täglich kuscheln die Eltern mit den Mädchen. „Es war jedes Mal ein Akt, die verkabelten Zwillinge aus dem Bett zu heben und auf unsere Brust zu legen. Die Pflegekräfte haben das mit so viel Liebe und Leidenschaft gemacht, dafür sind wir sehr dankbar“, sagt die Mutter. „Beide Eltern sind ein fester Bestandteil unserer Versorgung der Kinder. Deshalb ist es uns sehr wichtig, sie ab dem ersten Tag aktiv einzubeziehen“, betont Stationsleitung Mandy Lange.
„Wir hatten große Angst, unsere Zwillinge zu verlieren", erinnern sich die Eltern
Die Zwillinge werden zunächst auf der Intensivstation für Früh- und Neugeborene, dann auf der Überwachungsstation betreut, wo sie noch ein bisschen Kraft tanken und Gewicht zulegen sollen. Sie umarmen sich wie im Mutterleib, rudern mit den Ärmchen, stupsen sich wechselseitig mit ihren zarten Fingern im Gesicht. Bald schon können sie allein trinken, werden nur ergänzend mittels Sonde ernährt. Alles scheint im Lot, dann aber erkranken die Babys an einer bakteriellen Infektion, die sich zu einer schweren Sepsis zuspitzt. „Wir hatten große Angst, unsere Zwillinge zu verlieren. Das waren sehr schlimme Tage“, erinnern sich die Eltern. „Auch für uns war diese Situation herausfordernd. Sehr schnell haben wir links und rechts des gemeinsamen Wärmebetts zwei Intensivbehandlungsplätze mit getrennten Beatmungsgeräten aufgebaut und eine umfassende antibiotische Behandlung und Kreislauftherapie eingeleitet“, beschreibt Prof. Dr. Dominique Singer, Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, die Situation. Mit Erfolg: Die kleinen Mädchen überwinden die Infektion.
Sieben Wochen nach ihrer Geburt werden sie in einer dreistündigen Operation von Prof. Dr. Konrad Reinshagen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie, und Prof. Dr. Lutz Fischer, Direktor der Klinik und Poliklinik für Viszerale Transplantationschirurgie, und ihren Teams getrennt. Erneut sind zwei komplette Teams am Start, die zuvor Abläufe und Positionen geprobt haben.
Hausbesuch im Hamburger Norden
Dezember 2023, Besuch bei den Zwillingen und ihrer Familie im Hamburger Norden: Im Haus ist Bewegung. Die großen Geschwister toben umher, malen, spielen, kabbeln sich. Die vier Monate alten Babys strampeln munter auf der Krabbeldecke. Nur an der Farbe ihrer Kleidung, die eine lila, die andere rosa, können Fremde sie auseinanderhalten. „Auch ich habe manchmal meine Mühe damit“, räumt der Vater ein. Er hat sich Elternzeit genommen und teilt sich mit seiner Frau die liebevolle Betreuung und Versorgung der Kinder.
Zweimal in der Woche geht es zur Physiotherapie, da die Zwillinge eine Fehlhaltung haben. Sie überstrecken die Wirbelsäule, drehen den Kopf überwiegend in nur eine Richtung. Was an Beweglichkeit im Mutterleib und in den sieben Wochen von der Geburt bis zur Trennungsoperation nicht möglich war, wird nun zuhause mehrmals am Tag geübt. Die Operationsnarben verheilen von allein „und schneller als gedacht. Sie werden später wohl nur weiße Striche sein“, sagt die Mutter. Striche, die die Schwestern an ihre Verbundenheit zu Beginn des Lebens erinnern werden.
„Wohlinformierte Entscheidung für das Leben“
Prof. Dr. Kurt Hecher freut sich mit den Eltern über das außergewöhnliche Ereignis. Er leitet seit 20 Jahren die UKE-Klinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin und verabschiedet sich Ende März in den Ruhestand. Die UKE Life sagt hier Tschüss.
„Verbundene Zwillinge sind äußerst selten, laut Schätzungen treten solche Schwangerschaften mit einer Häufigkeit von 1:50.000 bis 1:200.000 auf. Moderne Bildgebung erlaubt zuverlässige Diagnosen über Art und Umfang der Verbundenheit – und ist damit eine große Hilfe für die Eltern.
Bei den Zwillingen, die im Herbst 2023 im UKE auf die Welt kamen, hatte die Sonographie schon in der frühen Schwangerschaft gezeigt, dass die Babys an der Bauchdecke verbunden waren und jeweils eine Leber besaßen, die aber miteinander verschmolzen waren. Rein medizinisch betrachtet, war dies die ‚günstigste‘ Variante verbundener Zwillinge für eine chirurgische Trennung, für Leben und Unversehrtheit beider Kinder – anders als etwa in Fällen, bei denen lebenswichtige Organe oder große Blutgefäße geteilt werden.
Eineiige Zwillinge entwickeln sich durch Teilung aus einer befruchteten Eizelle. Je früher diese Teilung nach der Befruchtung stattfindet, desto vollständiger ist sie, auch im Hinblick auf die Plazenten und die Fruchthöhlen, in denen sich die Embryos entwickeln. Erfolgt sie erst nach zwei Wochen, ist auch die körperliche Trennung nicht mehr vollständig und die Zwillinge bleiben im Verlauf der weiteren Entwicklung in der Gebärmutter körperlich miteinander verbunden.
Die Geburt verbundener Zwillinge ist eine besondere Herausforderung, denn sie müssen beim Kaiserschnitt gemeinsam durch die Öffnung der Gebärmutter passen, nicht nacheinander wie bei einer normalen Zwillingsgeburt. Der Eingriff in der 33. Woche und die chirurgische Trennung der Babys sieben Wochen später verliefen komplikationslos. Die Mädchen entwickeln sich prächtig und haben beste Aussichten auf eine weiterhin gute und gesunde Entwicklung.
Ihre Eltern hatten von Anfang an den Wunsch, die Schwangerschaft fortzusetzen. Sie wurden engmaschig im UKE betreut und konnten dadurch eine wohlinformierte Entscheidung für das Leben treffen. Die Kraft und der Mut dieser Eltern sind bewundernswert.“