Leben retten

Jedes Jahr kommen in Deutschland knapp 6000 Kinder mit einem schweren Herzfehler zur Welt. Viele davon lassen sich beheben – vorausgesetzt, sie werden früh genug erkannt. Im UHZ werden derzeit Methoden untersucht, die Herzprobleme direkt nach der Geburt aufdecken sollen.

Eigentlich war alles gut: die Schwangerschaft super verlaufen, die Geburt beschwerlich, aber geschafft, und der kleine Jannis endlich da. „Im ersten Moment waren wir einfach glücklich und erleichtert“, erinnert sich Julia Hühnermann und schaut liebevoll auf das winzige Baby in ihrem Arm. Doch schon bald mischen sich erste Sorgen ins große Glück. Jannis ist schläfrig und kein guter Trinker. „Das liegt an der leichten Gelbsucht“, beruhigen die Kinderkrankenpflegerinnen die jungen Eltern. Auch die zweite kindliche Vorsorgeuntersuchung im Krankenhaus, die sogenannte U2, verläuft unauffällig und die Familie darf nach sechs Tagen endlich nach Hause.

Jannis tut sich weiter schwer mit dem Trinken. Den Eltern fällt auf, dass er häufig eiskalte Hände und Füße hat, unruhig ist, sich verkrampft und presst. „Wir erkundigten uns bei unserer Hebamme, ob es Grund zur Sorge gebe“, sagt Julian Hühnermann. Doch es finden sich immer harmlose Erklärungen. Erst als Jannis mit neun Tagen komplett aufhört zu trinken und ganz blass wird, geraten sie in Panik und fahren in die nächstgelegene Notaufnahme. Schon nach einer Stunde erklären die Ärzte, dass Jannis an einem schweren Herzfehler leide und sich im kardiologischen Schockzustand befinde. Er müsse sofort in die Kinderkardiologie des UKE. Die Eltern sind fassungslos. Wie konnte das passieren? Schließlich hatte keine der vielfältigen vorherigen Untersuchungen im Krankenhaus auf eine Herzproblematik hingedeutet.

In der Tat werden mögliche organische Probleme bereits vorgeburtlich um die 20. Schwangerschaftswoche im Rahmen einer Ultraschalluntersuchung abgeklärt. „Doch noch immer gibt es angeborene Herzfehler, die aufgrund der Lage der Gefäße schwer zu diagnostizieren sind“, erklärt Dr. Florian Arndt, Oberarzt der Kinderkardiologie des Universitären Herzzentrums (UHZ) des UKE. Dazu zählt auch Jannis‘ Herzfehler: die sogenannte Aortenisthmusstenose (CoA), eine Verengung der Körperschlagader im Bereich des Aortenbogens, die den Blutfluss zur unteren Körperhälfte nahezu komplett unterbricht. Doch warum erkannte man den Herzfehler nicht kurz nach der Geburt? „Das kann zum einen daran liegen, dass Untersuchungen wie die Sauerstoffmessung, die auf einen Herzfehler hindeuten könnte, zu früh stattfinden, um aussagekräftige Diagnosen zuzulassen“, sagt Dr. Arndt. Zum anderen sei ein gewisses Maß an kardiologischer Routine nötig, um selbst beim kleinsten Hinweis aufmerksam zu werden.

Risiken rechtzeitig erkennen

Eine wissenschaftliche Studie zum Thema „Kardiale Biomarker“, die Dr. Arndt im Universitären Herzzentrum gemeinsam mit einem Team der Neugeborenen-Intensivstation und der Entbindungsstation des UKE durchführt, soll die diagnostische Lücke zur Früherkennung von Herzfehlbildungen schließen. „Biomarker sind Enzyme oder Hormone, die im Blut zirkulieren und Informationen darüber liefern, ob eine Erkrankung droht, bereits besteht oder sich womöglich entwickeln wird“, erläutert Dr. Arndt. Die Idee: Direkt nach der Entbindung werden aus dem Nabelschnurblut Proben entnommen und im Labor bestimmt. „Wenn einer der analysierten Biomarker Auffälligkeiten aufweist, könnten wir direkt Untersuchungen einleiten und das Kind behandeln, bevor es einen kritischen Zustand erlangt“, sagt der Kinderkardiologe.


Biomarkerspiegel verändern sich

Insgesamt 68 herzgesunde Neugeborene wurden bislang untersucht. Ziel der Wissenschaftler ist es, den Einfluss von Schwangerschaftsdauer und Geburtsmodus zu zeigen und entsprechende Normwerte für Neugeborene zu erarbeiten. „Wir haben festgestellt, dass Biomarkerspiegel, die bereits in der Erwachsenenkardiologie bekannt sind, nach Kaiserschnitten andere Werte aufweisen als nach einer natürlichen Geburt.“ So schnellt beispielsweise der Copeptinspiegel nach Wehentätigkeit in die Höhe, wohingegen er bei Neugeborenen nach Kaiserschnittentbindung niedrige Werte aufweist. Auch das Alter des Fötus bei der Entbindung verändert den Level bestimmter Biomarker, die als Herzinsuffizienz-Indikatoren gelten. Um sie auf den frühkindlichen Organismus übertragen zu können, ist es notwendig, die Normwerte auf das Gestationsalter und den Geburtsmodus hin zu bereinigen. Dafür sind weitere Untersuchungen bei rund 200 gesunden Neugeborenen geplant. Voraussetzung dafür ist das Einverständnis der Eltern. Dr. Arndt: „Wir sind zuversichtlich, noch viele weitere Studienteilnehmer gewinnen zu können, um Neugeborenen künftig die Chance auf eine rechtzeitige Behandlung zu ermöglichen.“


Rettung in letzter Sekunde

Für Jannis kommt die Rettung in letzter Sekunde. Nachdem er in der Kinderkardiologie des UKE drei Tage nach seiner Aufnahme stabilisiert ist, wird sein Herzfehler in einer sechsstündigen Operation behoben. Auch ein Loch in der Kammerscheidewand sowie ein Defekt zwischen den Herzvorhöfen werden im Zuge des Eingriffs repariert. Vier lange Tage bangen Julia und Julian Hühnermann um das Leben ihres Sohnes. „Die Erleichterung war unbeschreiblich, als Jannis endlich außer Lebensgefahr war.“ Groll gegen diejenigen, die den Herzfehler übersahen, hegen sie nicht. „Wir haben zwar alle Beteiligten informiert, wissen aber, wie schwierig es ist, diese Fehlbildung zu erkennen“, sagt die junge Mutter. „Daher halten wir die Forschungen im UKE zu neuen Diagnosemethoden für extrem wichtig, um jungen Eltern und ihrem Kind das zu ersparen, was wir erleben mussten.“ Die Sonde, über die Jannis anfangs ernährt wurde, benötigt er nicht mehr. Er trinkt wieder fleißig und beobachtet neugierig seine Umgebung. Diese Momente wollen Julia und Julian Hühnermann jetzt in vollen Zügen genießen und nach vorn schauen. Eines steht für sie schon heute fest: Jannis Geburtstag werden sie zwei Mal im Jahr feiern.

Gut erkennbar links oben die Einkerbung des Aortenbogens. Zum Vergleich: ein gesunder Aortenbogen rechts

Gut erkennbar links oben die Einkerbung des Aortenbogens. Zum Vergleich: ein gesunder Aortenbogen rechts
Für die Studie erfolgt direkt nach der Entbindung eine Blutentnahme aus der Nabelschnur
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Für die Studie erfolgt direkt nach der Entbindung eine Blutentnahme aus der Nabelschnur
Alles in Ordnung: Dr. Arndt freut sich, dass Jannis Herz nach der Operation schlägt, wie es soll
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Alles in Ordnung: Dr. Arndt freut sich, dass Jannis Herz nach der Operation schlägt, wie es soll
  • Auf einen Blick
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    Rund 5770 Neugeborene werden jährlich wegen eines Herzfehlers operiert. Einige von ihnen erreichen die Kinderkardiologie bereits in einem äußerst kritischen Zustand, weil ihre Fehlbildung bei allen Screenings unerkannt blieb. Die Pulsoxymetrie, bei der im Rahmen der Neugeborenen-Basisuntersuchung (U2) der Sauerstoffgehalt an verschiedenen Extremitäten des Kindes gemessen wird, zählt als wichtiger Indikator. Jedoch wird durch diese Methode nicht jeder Herzfehler zum entsprechenden Untersuchungszeitpunkt erkannt.

    Die Kinderkardiologen des Universitären Herzzentrums im UKE forschen an neuen Methoden, schmerzfrei aus dem Nabelschnurblut kardiale Biomarker zu analysieren, welche bereits kurz nach der Geburt Hinweise auf das Vorliegen eines angeborenen Herzfehlers liefern könnten. Auch dies würde dazu beitragen, bedrohliche Herzfehler zukünftig seltener zu übersehen, sind die Kinderkardiologen des UHZ zuversichtlich.

Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Dagmar Claußen