Zu früh

An der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin forschen Prof. Dr. Dominique Singer und sein Team am Inkubator der Zukunft für schutz- und pflegebedürftige Frühgeborene.


1878 soll der Kinderarzt Étienne Stéphane Tarnier eine Ausstellung von Brutkästen für Vogeleier besucht haben. Seit der Antike wissen die Menschen, dass es der Vogelnachwuchs mollig warm braucht, um schlüpfen zu können. „Warum sollte nicht auch Menschen helfen, was den Vögeln nützt“, soll Dr. Tarnier damals gedacht haben und gab den ersten Brutkasten für Babys in Auftrag. Einen Eisenkasten mit Glasdeckel lieferten die Techniker wenig später in seine Klinik. Wärmequelle war heißes Wasser, das in Rohren unter dem Eisen entlangfloss. So einfach und schlicht diese allererste Inkubator-Generation auch war – sie sorgte innerhalb weniger Monate dafür, dass sich die Sterblichkeitsrate von zu früh Geborenen erheblich reduzierte. Nur zwei Jahre später wird die sogenannte „Couveuse“ zum Patent angemeldet.

„War es damals nur die Wärme, die der Brutkasten lieferte, erzeugen Inkubatoren heute ein Mikroklima, das den Bedingungen in der Gebärmutter sehr nahekommt“, erklärt Prof. Singer. „Pro Jahr kommen bei uns etwa 80 Frühgeborene mit einem Gewicht unter 1500 Gramm auf die Welt. In einem Brutkasten der ersten Generation hätten sie nur geringe Überlebenschancen gehabt.“

Bereits im frühen 20. Jahrhundert beobachteten Ärzte fasziniert, dass Babys mit Atemproblemen unter erhöhter Sauerstoffzufuhr regelmäßiger atmen und ihre blauverfärbte Haut rosig wird. Nach dem Motto „Wenn bereits eine kleine Menge hilft, dann muss doch die volle Dosis Wunder wirken!“ wurden daraufhin vielen Frühgeborenen große Mengen Sauerstoff zugeführt – mit fatalen Folgen! Ungenutzter Sauerstoff wirkt toxisch, die kleinen Patienten erblindeten. Neuere Studien zeigen allerdings, dass auch ein reduziertes Sauerstoffangebot schädliche Folgen haben kann.


Persönliche Bedürfnisse ermitteln

Immer wichtiger ist deshalb die Klärung der Fragen: Wie viel Sauerstoff und Nahrung benötigen die Kleinsten der Kleinen genau? Und wie lässt sich der jeweils individuelle Bedarf ermitteln? Prof. Singer hat es sich seit langem zur Aufgabe gemacht, diese persönlichen Bedürfnisse der Frühchen zu ermitteln. Zur Zeit sind die Mediziner insbesondere auf bestimmte Tabellenwerte angewiesen. „Viel besser wäre es, wenn man die individuelle Stoffwechselrate messen könnte“, mutmaßte er schon vor einiger Zeit. Das Kalorimeter brachte ihn auf den richtigen Weg. Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) hat es entwickelt. Der französische Chemiker wies nach, dass Tiere ein Gas aus der Luft entnehmen, das im Körper zur Nahrungsverwertung verbraucht wird, ganz wie bei einer Verbrennung: Sauerstoff. Um die Wärmebildung zu messen, setzte er Forschungstiere in eine Kammer, die von einem Eismantel umgeben war. Aus der Menge des gebildeten Schmelzwassers berechnete er die abgegebene Wärmemenge. In einem weiteren Experiment setzte er die Tiere unter eine Glasglocke und bestimmte die Menge an Sauerstoff, die sie der Luft entnahmen.

Wie könnte ein solches Kalorimeter für Frühchen aussehen? Um den Sauerstoffverbrauch zu messen, kann man Babys vorübergehend eine Art Astronautenhelm überstülpen. Alltagstauglich ist diese wissenschaftliche Methode aber nicht. Eine technische Neuerung aus der Raumfahrt half Singer und seinem Team dagegen weiter. Mit Hilfe eines Wärmefluss-Sensors, der bei Feuerwehrleuten und Astronauten zur Überwachung des Wärmehaushaltes benutzt wird, müsste es sehr einfach sein, den Stoffwechsel eines Menschen zu bestimmen – so die Hypothese der UKE-Wissenschaftler. Der Miniaturfühler hat zwei Seiten. Die eine ist dem Körper zugewandt, die andere der Außenwelt. Über die Differenz zwischen Innen- und Außentemperatur lässt sich der Wärmefluss ermitteln. „Und dieser Wärmefluss muss eine direkte Proportionalität zur Stoffwechselrate haben“, glaubt Prof. Singer. „Wenn das so wäre, dann hätten wir mit dem Sensor ein einfaches Instrument, um die Stoffwechselrate des Patienten zu bestimmen, und wüssten gleichzeitig, wie viel Sauerstoff 1und wie viele Nährstoffe wir dem Kleinen zuführen müssen.“

Brutkasten Generation 1.0, der vermutlich um 1930 gebaut wurde
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Bei diesem Brutkasten dürfte es sich um die "Generation 1.0" handeln. 1930 gebaut, wurde er durch Glühlampen beheizt.
Prof. Dr. Singer - UKE Hamburg-Eppendorf
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Prof. Dr. Singer demonstriert ihn im Medizinhistorischen Museum des UKE Hamburg-Eppendorf
Der Wärmesensor: Er stört die Kleinen kaum - und diese Puppe sowieso nicht
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Der Wärmesensor: Er stört die Kleinen kaum - und diese Puppe sowieso nicht
Anne Beckmann und Prof. Singer haben die Versuchsanordnung zur Messung des Sauerstoffverbrauchs fürs Foto mit einer Puppe noch einmal aufgebaut
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Anne Beckmann und Prof. Singer haben die Versuchsanordnung zur Messung des Sauerstoffverbrauchs fürs Foto mit einer Puppe noch einmal aufgebaut


Individuelle Stoffwechselrate

Tatsächlich: Medizinstudentin Janna Röttgers stellte im Rahmen ihrer Doktorarbeit fest, dass die Werte, die über den Wärmefluss-Sensor ermittelt wurden, dem durchschnittlichen Anstieg der Stoffwechselrate nach der Geburt entsprechen, der bei Frühgeborenen aus der Literatur bekannt ist. In einer zweiten Fragestellung widmete sich Doktorandin Anne Beckmann dem individuellen Verbrauch – schließlich ist jedes Kind anders – und kombinierte die Wärmeflussmessungen mit aufwendigen Sauerstoffverbrauchsmessungen. Dabei entdeckten Beckmann und Singer mehr, als sie ursprünglich erhofft hatten: Der Wärmefluss lässt nicht nur Rückschlüsse auf die individuelle Stoffwechselrate der Frühgeborenen zu; vielmehr ist die Stoffwechselrate der Kinder bereits in den Inkubatoreinstellungen indirekt enthalten. Je mehr Wärme die Frühgeborenen selbst produzieren, desto weniger müssen sie vom Inkubator zugeführt bekommen. Auf diese Weise lässt sich die Genauigkeit der Messung weiter steigern.

Damit könnte der „Brutkasten 4.0“, der sich derzeit noch in Planung befindet, fast so perfekt und spezifisch auf das Kind zugeschnitten funktionieren wie die Gebärmutter. Die Kleinsten hätten dann ähnlich gute Startbedingungen wie Neugeborene, die in der 40. Schwangerschaftswoche den schützenden Bauch ihrer Mutter verlassen. „Unsere Vision in der Perinatalmedizin ist es, die Umgebungsbedingungen für Frühgeborene weiter zu optimieren“, erläutert Prof. Singer. „Nur auf diese Weise kann es gelingen, den zu frühen Start ins Leben dauerhaft zu kompensieren. Mit einem Inkubator, der den Frühgeborenen nicht nur ein perfektes Mikroklima bietet, sondern auch ihren individuellen Sauerstoffund Nährstoffbedarf erfasst, kommen wir dieser Vision ganz nah.“

Text: Kerstin Graupner
Fotos: Axel Kirchhof