Entfesselte Abwehrkräfte

Mit immuntherapeutischen Methoden können Ärzte Patienten heute auf fast wundersame Weise heilen. Doch die durch eine Veränderung des Immunsystems entfesselten Abwehrkräfte sind schwer zu kontrollieren – Nebenwirkungen können tödlich sein.


Das wollen Prof. Dr. Mascha Binder und ihr Team am Labor für Tumorimmunologie der II. Medizinischen Klinik ändern. Mit genetischen Analysen wollen die Forscher herausfinden, ob und wie ein Krebspatient von einer Immuntherapie profitieren kann.

Das Immunsystem des Menschen ist erstaunlich – und ein Grund für den evolutionären Erfolg unserer Art. Ohne sein leistungsfähiges Abwehrsystem könnte ein so komplexer Organismus wie der menschliche, der aus rund 100 Billionen Zellen besteht, kaum einen Tag in einer Umwelt voller Viren, Bakterien, Pilzen und Parasiten überleben, geschweige denn 70 Jahre oder älter werden. Im Blut eines Menschen patrouillieren Immunzellen wie Polizisten auf Streife. Sie erkennen vorbeischwimmende Zellen anhand von Eiweißstrukturen auf ihrer Oberfläche. Stoßen sie auf Krankheitserreger, lösen sie Alarm aus und rufen Spezialeinheiten zur Verstärkung. Bei dem Gefecht, einer Entzündung, werden die Erreger unschädlich gemacht – von Fress- und Killerzellen oder solchen, die sie mit Zellgiften traktieren.

Bei Krebszellen funktioniert das Abwehrsystem aber nicht so, wie Ärzte und Patienten es sich wünschen. Die zahlreichen Mutationen, durch die normale Körperzellen zu Krebszellen werden, wirken sich zwar auch auf ihre Zelloberfläche aus, so dass sie – theoretisch – von Immunzellen als „anders“ erkannt werden könnten. Da sich Krebszellen mithilfe bestimmter Eiweißmoleküle an ihrer Oberfläche aber als „körpereigen“ ausweisen können, werden sie im Gegensatz zu eingedrungenen Bakterien oder transplantierten Organen von den Immunzellen nicht angegriffen.

Kein Kinderspiel: Pro Sequenzierungsdurchlauf untersuchen Mascha Binder und ihr Team ungefähr 25 Millionen DNA-Sequenzen
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Kein Kinderspiel: Pro Sequenzierungsdurchlauf untersuchen Mascha Binder und ihr Team ungefähr 25 Millionen DNA-Sequenzen


Tumorzellen fliegen unter dem Radar

„Über viele Jahrzehnte hat man die Mechanismen zu wenig verstanden, mit denen Tumoren unter dem Radar des Immunsystems fliegen können. Die molekulare Aufklärung dieser Mechanismen erlaubt es inzwischen, Medikamente zu entwickeln, welche wie die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren die Bremsen im Immunsystem lösen und damit die körpereigene Abwehr gegen Tumoren scharf schalten“, erklärt Mascha Binder. „Durch die Immuntherapie rückt für viele unheilbar erkrankte Patienten eine längerfristige, in Einzelfällen auch dauerhafte Krankheitskontrolle in greifbare Nähe.“

Die Manipulation des Immunsystems ist allerdings ein Spiel mit dem Feuer. Denn die für Krebszellen sensibilisierten Abwehrzellen können sich auch gegen gesunde Körperzellen wenden und lebensgefährliche Entzündungen hervorrufen. Hinzu kommt: Der Anteil der Responder – also derjenigen Patienten, bei denen die Immunmoleküle tatsächlich wirken – ist mit 20 bis 30 Prozent gering. „Die klinische Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen. Weitestgehend unklar ist bislang, welche Patientengruppen am meisten profitieren und in welcher Phase der Tumorerkrankung diese Medikamente am besten wirken“, erklärt die Ärztin. Und im Sinne eines nachhaltigen Gesundheitswesens sollten die Mittel zielgerichtet eingesetzt werden. „Denn immerhin handelt es sich um eine Therapieoption, die Medikamentenkosten im vierstelligen Bereich pro Patient und Behandlungsmonat verursacht.“


Genetisches Puzzlespiel

Um abschätzen zu können, bei welchen Patienten die teuren Immun-Medikamente effektiv eingesetzt werden können, müssen Mascha Binder und ihr Team die immunologische Situation eines Krebspatienten besser kennen. Welche Eigenschaften haben die Immunzellen, die den Tumor infiltrieren; welche diejenigen, die im Blut zirkulieren? Was passiert mit den Zellen, wenn die Immuntherapie beginnt? Kann man Veränderungen als Biomarker verwenden, um den Verlauf der Therapie vorhersehen zukönnen? Antworten liefert „eine innovative Technologieplattform, die geeignet ist, adaptive Immunantworten und lokale Tumorimmunmilieus genauestens zu charakterisieren“, so Binder. Mithilfe moderner Sequenzierautomaten lesen die Forscher in den Zellen den Code aller für sie interessanten Gene aus. „Pro Sequenzierungsdurchlauf müssen wir ungefähr 25 Millionen DNA-Sequenzen untersuchen. Jede einzelne besteht aus 400 Basenpaaren. Das sind insgesamt rund 10 Milliarden Datensätze“, erklärt Mascha Binder.Früher habe die Auswertung Wochen gedauert. Inzwischen lasse sich der Datenberg innerhalb weniger Tage zuverlässig analysieren.

Die letzten Tumorzellen finden

Die aufwendige Gendiagnostik hilft zudem, Krebszellen zu erkennen, die selber aus Immunzellen hervorgehen, wie zum Beispiel bei Leukämien und Lymphomen. Vor allem Patienten nach einer erfolgreich verlaufenden Ersttherapie können davon profitieren. Denn sie und ihre Ärzte stehen immer wieder vor der Frage, ob sie tatsächlich geheilt sind oder ob sie bloß jenen Zustand erreicht haben, den Experten als Minimale Resterkrankung bezeichnen: Ein tückischer Zustand, der den Betroffenen vorgaukelt, geheilt zu sein, während sie in Wahrheit auf einer zellulären Zeitbombe sitzen, weil sich noch vereinzelte Krebszellen im Körper verstecken. „Da die Tiefensequenzierung ein sehr sensitives Verfahren ist, können wir mit extrem hoher Präzision auch minimale Krankheitsreste nachweisen und unsere weitere Therapie danach steuern“, sagt Prof. Binder.

Und werden bei der Hochdurchsatzsequenzierung tatsächlich keine Krebszellen mehr gefunden, dann ist das für die Betroffenen eine wirklich gute Nachricht: Sie leben nachweislich länger als andere Patienten, ohne dass ihre Krankheit fortschreitet.

„Wir wollen die körpereigene Abwehr gegen Tumoren scharf schalten“, sagt Prof. Dr. Mascha Binder
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„Wir wollen die körpereigene Abwehr gegen Tumoren scharf schalten“, sagt Prof. Dr. Mascha Binder
  • Auf einen Blick
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    Immuntherapien gegen Krebs

    Einen Schwerpunkt der Immuntherapie bildet derzeit die Checkpoint-Blockade: Checkpoint-Inbibitoren blockieren bestimmte Bindungsstellen auf Krebs- und Immunzellen. Sie verhindern so, dass eine Krebszelle den Angriff einer T-Killerzelle unterbinden kann. Eine andere Möglichkeit, T-Killerzellen für den Angriff auf Krebszellen zu aktivieren, bietet die adoptive T-Zelltherapie. Dabei werden dem Patienten T-Zellen entnommen und dann mithilfe gentechnischer Methoden mit neuen Rezeptoren ausgestattet, so dass sie die Krebszellen besser erkennen können. Ein dritter Ansatz sind Antikörpermoleküle, die wie ein Adapter die Bindung zwischen Krebsund Killerzellen vermitteln. Diese sogenannten bispezifischen T-Zell-aktivierenden Antikörperkonstrukte (BiTE) helfen dem körpereigenen Immunsystem, Krebszellen zu erkennen und zielgerichtet anzugreifen.

Text: Arnd Petry
Fotos: Felizitas Tomrlin