Genetischer Schlüssel
Revolution in der Krebstherapie: Möglicherweise ist nicht der Ort des Tumors entscheidend für die Behandlungsstrategie, sondern die genetische Landkarte, die jeden Tumor einzigartig macht. Frank Hohensee könnte von dem neuen Wissen profitieren.
Austherapiert: Seitdem er 2014 erfuhr, dass bei seinem hoch aggressiven Tumor zunächst nicht einmal klar sei, ob er in der Blase, der Prostata oder dem Darm sitze, hat Frank Hohensee (41), Vater von drei Kindern, dieses Unwort oft gehört. Von der ersten klinischen Untersuchung bis zur Erkenntnis, dass auch die Lymphknoten massiv befallen seien, dass sich bereits Metastasen im Körper ausbreiteten,vergingen nur 48 Stunden. Der Tumor sei zu groß für eine Operation, erklärte man ihm. „Es hat uns den Boden unter den Füßen weggerissen“, sagt seine Frau Daniela (36). Die Diagnose hat sie in einem Meer aus Angst zurückgelassen. Wie viel von der verbleibenden Lebenszeit ist schon um? Was sagen wir unseren drei Kindern – und wann? Sie kontaktierten ein Hospiz. Sie sprachen über ein Begräbnis. Bei ihrem ersten Urlaub nach der vernichtenden Diagnose fragten sie sich unaufhörlich, ob dies ihr letzter sein würde. Die verbleibende Zeit raste ihnen durch die Finger.
Im Februar 2016 kam Hohensee das erste Mal in die Martini-Klinik. Seitdem ist alles anders. Dass das Leben ihm diese Chance gab, sieht Frank Hohensee als ein Geschenk. Er wurde zunächst mit einer Hormontherapie behandelt, die den Tumor verkleinerte, sodass eine Operation möglich wurde. Anschließend erhielt er eine Chemotherapie. Als die etablierte Behandlung ausgereizt war und der Tumor in die Leber streute, begann seine individuelle, genspezifische Therapie.
„Straßen des Genoms“ abfahren Genetischer Schlüssel
„Jeder Patient ist ein neues Lehrbuch“, sagt Prof. Dr. Thorsten Schlomm aus der Martini-Klinik, der zusammen mit Priv.-Doz. Dr. Gunhild von Amsberg, II. Medizinische Klinik, Frank Hohensee versorgt. „Wie bei Google Earth fährt man jeweils alle Straßen des Genoms ab, sucht nach Brüchen, Genfusionen, Mutationen, die dort nicht hingehören. Und dann macht man eine Navigation daraus, mit welchem Medikament die wichtigste Genveränderung zu erreichen und bestmöglich zu behandeln ist.“
Weltweit werden diese Gensequenzierungen gesammelt, die Wege entschlüsselt: sogenannte Pathways, auf denen sich auch Metastasen ausbreiten. Sie ähneln sich bei vielen sequenzierten Tumorarten. Die gesammelten Genprofile werden mit gesunder DNA verglichen und sollen in Zukunft in einem eigens eingerichteten sozialen Netzwerk mit dem Namen „Progether“ Ärzten ebenso wie Prostatakrebs-Patienten zugänglich gemacht werden. So profitieren weltweit alle von den Erfahrungen anderer. „Auf diese Weise werden Therapien optimiert“, sagt Prof. Schlomm, der in einem internationalen Netzwerk von Genforschern, Mathematikern und Ärzten an der Entschlüsselung der Krebsgene und an gezielten Therapien arbeitet.
Die Genomik hat eine neue Ära der individualisierten Krebstherapie eingeläutet, glauben Schlomm und von Amsberg. „Die gesamte DNA eines Menschen zu analysieren ermöglicht uns, die genetischen Schäden zu identifizieren, die Krebs entstehen und sich im Körper ausbreiten lassen. Gleichzeitig werden immer neue genspezifische Medikamente entwickelt, die diese genetischen Schäden nutzen, um gezielt Tumorzellen auszuschalten.“ Das International Cancer Genom Consortium (ICGC) und der The Cancer Genome Atlas (TCGA) haben auf der Basis von über 20 000 Krebspatienten einen Katalog genetischer Veränderungen erarbeitet, die für die Tumorentstehung und -ausbreitung verantwortlich sind. Auch die Martini-Klinik und das Institut für Pathologie sind an dem Forschungsprojekt beteilig und werten die Daten zusammen mit Kollegen des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen(NCT) in Heidelberg aus.
Manche Tumoren ähneln sich genetisch
Erste Daten weisen darauf hin, dass es nur wenige relevante molekulare Pathways gibt, die etwa für eine Metastasierung verantwortlich sind. Viele Tumore sind offenbar genetisch verwandt; so ähneln manche Prostatakarzinome genetisch eher Lungen- oder Ovarialkarzinomen. „Diese dann wie ein Prostatakarzinom zu behandeln, macht also gar keinen Sinn“, sagt Schlomm. Ziel der genbasierten Therapie ist es, genetische Pathways individuell und gezielt mit Medikamenten zu blockieren, anstatt jeden Tumor gleich zu behandeln.
Für Frank Hohensee ist die genbasierte Therapie so etwas wie ein Rettungsanker. Als erster Patient in der Martini-Klinik wird er mit einem genspezifischen Medikament behandelt, Olaparib, das eigentlich nur für Ovarialkrebs zugelassen ist – und dennoch perfekt zu seinen genetischen Mustern passt. 16 Tabletten am Tag, 7500 Euro Kosten im Monat. „Männer mit einer ähnlich speziellen Krebsvariante müssten auf das Medikament ansprechen“, sagt UKE Onkologin Dr. von Amsberg.
Ob es für Frank Hohensee der richtige Weg ist, wird die Zukunft zeigen. Sein Tumor ist zwischenzeitlich wieder gewachsen; er hofft auf neue Therapien, denkt aber schon viele Schritte weiter: Die drei Kinder von Daniela und Frank Hohensee, 9 Jahre die Tochter, 7 Jahre die Zwillinge, tragen womöglich die gleichen Gene in sich, die eines Tages auch bei ihnen Krebs auslösen können – nicht nur in der Prostata. Hohensee will seinen Teil dazu beitragen, die Früherkennung durch Gensequenzierung maßgeblich zu verbessern. „Das könnte meinen Kindern eines Tages das Leben retten.“
Text: Katrin Reichelt
Fotos: Axel Kirchhof