Chaos im Kopf
Rund zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Migräne; der heftige, anfallsartige Kopfschmerz wirft viele bis zu drei Tage am Stück aus der Bahn. Zwei UKE-Wissenschaftler sind auf gutem Wege, das Chaos im Kopf zu entschlüsseln.
Dass Katrin Poppelbaum ihren Namen eines Tages in einem wissenschaftlichen Fachmagazin lesen wird, ist eher unwahrscheinlich. Dabei hat die geplagte Migränepatientin Außergewöhnliches für die Forschung geleistet. 30 Tage in Serie ließ sie sich in eine MRT-Röhre schieben und ihr Gehirn scannen – ganz gleich, ob ihr Kopf gerade schmerzte oder nicht. Schlimmer noch: Während der Untersuchungen wurden ihre Augen mit Lichtblitzen malträtiert oder ihre Nase atmete Ammoniak ein. Heftige Schmerzreize, mit denen ihr Gehirn erst einmal fertig werden musste.
Für Poppelbaum, Migränepatientin seit ihrer Kindheit, war dieser selbstlose Einsatz, währenddessen sie sogar auf schmerzlindernde Medikamente verzichtete, jedoch alles andere als eine Tortur. „Allein die Teilnahme an der Studie hat meine Beschwerden gelindert. Endlich nimmt jemand meine Schmerzen ernst und will mir wirklich helfen! Darauf hatte ich nicht mehr zu hoffen gewagt."
Für Dr. Laura Schulte und Prof. Dr. Arne May war Patientin Poppelbaum so etwas wie ein Sechser im Lotto, rein wissenschaftlich betrachtet. „Bislang hat sich die Forschung ausschließlich auf die Attacke selbst konzentriert. Seit Jahren mehren sich aber die Anzeichen, dass die Attacke nicht erst mit dem Kopfschmerz, sondern schon vorher beginnt. Das konnten wir jetzt, nach Auswertung der Bilder von Frau Poppelbaum, belegen", erklärt Neurologe May, der auch aus persönlicher Betroffenheit seit 30 Jahren der Migräne und ihren Ursachen auf der Spur ist.
Veränderungen in der Schmerzverarbeitung
Neun Migränepatienten haben Schulte und May jeweils einen Monat täglich im Magnetresonanztomographen untersucht. Mit den Schmerzreizen wollten die Wissenschaftler ihre Probanden natürlich nicht zusätzlich quälen, sondern spezifische Veränderungen in der Schmerzverarbeitung vor, während und nach einer Migräneattacke sichtbar machen. Darüber hinaus fand täglich eine Ruhemessung im MRT statt. Unabhängig von experimentellen Reizen wollten die Wissenschaftler Aufschlüsse darüber erhalten, welche Hirnregionen im Verlauf einer Attacke wie miteinander kommunizieren.
Die Daten sind noch nicht abschließend ausgewertet, doch die strukturellen und funktionellen MRT-Bilder, die sie von Katrin Poppelbaum analysiert haben, überraschten die beiden Wissenschaftler: Bereits einen Tag vor Kopfschmerzbeginn reagierte der Hypothalamus – ein Bereich des Zwischenhirns, der Funktionen des vegetativen Nervensystems wie Müdigkeit, Hunger und Durst steuert – stärker auf Schmerzreize als außerhalb der Attacken. Sind die Kopfschmerzen erst einmal da, werden sie vom sogenannten Hirnstammgenerator, einem winzigen Areal im Zentrum des Gehirns, befeuert; beim Abklingen der Schmerzen haben visuelle Hirnareale eine besondere Bedeutung. „Insgesamt handelt es sich um ein komplexes Netzwerk, das Rhythmen und Schwankungen unterliegt", erläutert Schulte.
Sichtbar wurde bei den Untersuchungen ein spezielles Schmerzverarbeitungsmuster, bei dem insbesondere Hypothalamus, Hirnstammgenerator und Trigeminusnerv sich gegenseitig befeuern. Prof. May: „Die Ergebnisse sind wegweisend für das Verständnis der komplexen Vorgänge, die letztendlich zur Entstehung einer Migräneattacke führen." Ganz offensichtlich komme es durch äußere Einflüsse, normale körperliche oder hormonelle Veränderungen zu einer Aktivitätsänderung im Hypothalamus und in Netzwerken, die von dem Neurotransmitter Dopamin gesteuert werden. Diese Veränderungen führen dazu, dass die Schmerzkerne des Trigeminusnervs, die für die Weiterleitung von Schmerzimpulsen aus Kopf und Gesicht zuständig sind, ihre Aktivität ändern und in der Folge die Entstehung der anfallsartigen Kopfschmerzen begünstigen.
Gewandeltes Krankheitsverständnis
Was das neue Wissen für Patienten bedeutet? „Vor 30 Jahren galt Migräne als psychisches Frauenleiden, Arbeitgeber haben sie nicht als Grund für eine Krankschreibung akzeptiert", sagt May. „Heute wissen wir, dass Migräne eine chronische, oft genetisch bedingte Erkrankung ist. Wir können mit einer Migräne assoziierte Hirnregionen identifizieren und haben spezifische Medikamente zur Schmerzlinderung entwickelt. All das wäre ohne entsprechende Forschung unmöglich gewesen." Auch die neuen Erkenntnisse, davon ist Dr. Schulte überzeugt, werden therapeutische Konsequenzen nach sich ziehen. „Wenn eine Attacke deutlich vor den Schmerzen losgeht, müssen wir früher mit einer Behandlung beginnen, die am Hypothalamus ansetzt." Hierfür seien nicht unbedingt Medikamente erforderlich. Wenn Patienten Stimmungsschwankungen, Unkonzentriertheiten, Heißhunger feststellen, können sie eventuell mit Stressbewältigung eingreifen, um den ersten wackelnden Dominostein noch zu stabilisieren und die neuronale Kaskade aufzuhalten. „Im besten Fall lässt sich die Attacke gänzlich stoppen."
Text: Uwe Groenewold
Fotos: Ronald Frommann