Gemeinsam allein
Likes auf Facebook, das nächste Level im Computerspiel, Bilder und Videos hochladen: Immer mehr Kinder und Jugendliche werden onlinesüchtig. Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) bietet Hilfe. Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des DZSKJ, erforscht die Sucht nach der virtuellen Welt.
Stundenlanges Starren auf den Computerbildschirm, der fast automatische Griff zum Handy bei jedem Signal: Viele Kinder und Jugendliche können sich – wie die meisten Erwachsenen auch – ein Leben ohne Internetverbindung kaum noch vorstellen.„Computer, Smartphones, Tablets und Co. bieten durch den Zugang zu einer Vielzahl von Informationen und der Möglichkeit eines breiten Austausches immense Chancen“, sagt Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ).
Neue Welten entdecken, komplexe Interaktionen lernen, zielgerichtet Aufgaben bewältigen – „die Nutzung digitaler Medien spricht typische Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalters an“, betont Prof. Thomasius. Computerspiele versprächen Kindern und Jugendlichen Spaß und forderten ihre Geschicklichkeit heraus. „Mit den Spielen können die Nutzer:innen abschalten, spannende Aufgaben lösen und Teil eines Teams sein“, so Prof. Thomasius weiter. In sozialen Netzwerken könnten sie kommunizieren, sich mit Freunden austauschen und vielfältiges Feedback erhalten.
Problematisch sei nicht die messbare Zeit, die junge Menschen mit Onlineangeboten verbringen, hebt Prof. Thomasius hervor. „Internetsucht entsteht nicht dadurch, dass jemand viel Computer spielt oder sich über Social Media austauscht“, erklärt der Suchtexperte. Eine übermäßige Mediennutzung könne aber ein Anzeichen für tiefer liegende Probleme sein – und zwar dann, wenn der Aufenthalt in virtuellen Räumen als Bewältigungsstrategie für psychische Störungen wie soziale Phobien, Depressionen oder Traumatisierungen eingesetzt wird.
Suchtstoff: Selbstbewußtsein
Für die Diagnose einer Spielsucht gibt es klare Kriterien. Danach besteht etwa Suchtgefahr, wenn Spieler:innen ihr Gaming-Verhalten nicht mehr kontrollieren können, wegen des Computerspielens wichtige Beziehungen oder den eigenen Werdegang gefährden und trotz negativer Konsequenzen nichts an der Nutzung ändern. Prof. Thomasius sieht insbesondere suchtfördernde Instrumente, die in Onlinespielen wie auch in sozialen Netzwerken eingesetzt werden, als problematisch an. „Einige Spiele animieren die jungen Spieler:innen etwa mit ‚Lootboxen‘ – Schatzkisten mit unbekanntem Inhalt – zum Weiterspielen oder bestrafen Spielunterbrechungen mit Punktabzügen.“ Auch Belohnungen für Nutzer:innen, die täglich Bilder hochladen – wie die „Streaks“ bei Snapchat –, übten Druck aus, weiterzumachen. „Solche Mittel werden von Anbietern durchaus bewusst eingesetzt, um Spieler:innen online zu halten“, kritisiert der Suchtexperte.
Betroffen von Internetsucht sind etwa 3 bis 5 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. „Die Kontrolle im neuen Level des Abenteuerspiels zu erlangen, sich durch die Vernetzung in sozialen Medien sicher zu fühlen – das sind Gefühle, um die es bei der Internetsucht geht“, erläutert Prof. Thomasius. Eine neue Untersuchung in Zusammenarbeit mit der DAK hat gezeigt, dass die Nutzungszeiten für Spiele und soziale Medien im Verlauf der Pandemie um bis zu 75 Prozent zugenommen haben.
90 bis 95 Prozent der im DZSKJ ambulant oder stationär behandelten Jugendlichen sind Jungen und junge Männer. „Onlinestudien haben allerdings ergeben, dass Mädchen und junge Frauen sogar stärker als ihre männlichen Altersgenossen von Internetsucht betroffen sind“, erklärt Thomasius. Ihre Onlinesucht sei jedoch sozial weniger auffällig und ziehe daher seltener eine Behandlung nach sich. „Mädchen präferieren soziale Foren gegenüber Computerspielen, ihr Kommunikationsverhalten steht den gesellschaftlichen Anforderungen weniger entgegen. Jungen, die zu uns in die Drogenambulanz kommen, sind oft sehr selbstunsicher. Spiel-Avatare symbolisieren hingegen Macht und Einflussnahme.“
Ausbruch aus dem Onlinegefängnis
In Angeboten der Drogenambulanz wie beispielsweise dem Gruppenprogramm „Lebenslust statt Onlineflucht!“ soll auch die Freude der Jugendlichen an Offlinetätigkeiten gestärkt werden. „Unsere Ärzt:innen und Therapeut:innen arbeiten gemeinsam mit den Betroffenen daran, ihre sozialen Kompetenzen zu stärken und aktive Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu erproben“, erklärt Prof. Thomasius.
Unterstützt wird die Drogenambulanz durch gemeinnützige Vereine und weitere Institutionen. Prof. Thomasius ist dankbar für die bisherigen Spenden und wünscht sich, mit zukünftigen Mitteln die Freizeiträume der Ambulanz sowie den Garten der Suchtstation schöner ausstatten zu können, um die Jugendlichen für sportliche Aktivitäten zu begeistern und Spaß am sozialen Miteinander zu wecken.
Text: Katja Strube
Fotos: Axel Kirchhof