Gipfelstürmer aus Wien
Wie entsteht Schmerz und wo liegt der Schalter, um ihn gezielt abzustellen? Seine Forschungen haben Prof. Dr. Stefan Lechner in fast alle Himmelsrichtungen Deutschlands geführt. Nach Stationen in Berlin und Heidelberg untersucht der Österreicher seit 2021 die Ursprungsquelle des Schmerzes in Hamburg. Das einzige, was er im hohen Norden notorisch vermisst? Natürlich die Berge.
Text: Nicole Sénégas-Wulf, Fotos: Eva Hecht
Sein Mountainbike, mit dem er früher im Wiener Umland so gern durch die Landschaft bretterte, hat Prof. Lechner mittlerweile im Keller verstaut. „Mir fehlen hier einfach die Höhen und engen Kurven“, lacht er. Doch die Entscheidung, von Heidelberg nach Hamburg zu ziehen, hat der Österreicher nie bereut. „Im Gegenteil, ich habe jeden Ortswechsel total genossen und war immer gespannt darauf, Neues auszuprobieren. Das hält den Kopf frisch“, sagt er. So richtig angekommen sei er allerdings erst letzten Sommer, als auch seine Familie nach Hamburg zog. „Seit ich nicht mehr pendeln muss, bleibt mir mehr Zeit, die Stadt zu entdecken.“ Zum Beispiel das Portugiesenviertel zwischen Michel, Hafen und Landungsbrücken mit seinen vielen Restaurants, die er gern mit seiner Frau besucht. Oder Konzerte und Ausstellungen. Auch die Hamburger Wasserstraßen hat der Wissenschaftler schon per SUP erkundet. Wie sich das angefühlt hat? „Also, auf Skiern bin ich talentierter“, gesteht er augenzwinkernd. „Aber glücklicherweise geht’s auf den Kanälen ja meist geradeaus, sodass ich noch nicht ins Wasser gefallen bin.“
Was den Biochemiker all die Jahre über begleitet hat, ist sein Forschungsthema: der Schmerz. „Schmerz ist der häufigste Grund, warum wir zum Arzt gehen. Er ist quasi eine Begleiterscheinung nahezu aller Erkrankungen. Trotzdem ist er noch lange nicht erforscht, was auch daran liegt, dass er sich sehr unterschiedlich äußert und schwer messbar ist.“ Um ihn an der Wurzel zu packen, konzentrieren sich Prof. Lechner und sein zehnköpfiges Team im UKE, das an die Klinik für Anästhesiologie angebunden ist, auf das periphere Nervensystem. Genauer: auf die Nervenfasern, an denen Schmerz entsteht. „Wir wollen herausfinden, wie sich die Empfindlichkeit von Nervenfasern nach Entzündungen oder Nervenverletzungen verändert und wie sich die daraus resultierenden Schmerzen gezielt ausschalten lassen.“ Dabei haben die Wissenschaftler:innen eine ganz besondere Klasse Schmerzrezeptoren entdeckt – die stummen Nozizeptoren. Eine Art Schläfer, die erst aktiv werden, wenn sie einen Schmerzreiz erhalten. „Dadurch verdoppelt und verdreifacht sich die Anzahl der Nervenfasern, die Schmerzsignale an das Rückenmark weiterleiten.“
Ziel der Forschung: Schmerzreize präzise ausschalten
Dass dem Wissenschaftler die Schmerzforschung so am Herzen liegt, hat auch damit zu tun, dass es in diesem Bereich noch viele blinde Flecken gibt. „Das Kernproblem besteht darin, dass wir bis heute letztendlich nur über zwei nennenswerte große Schmerzmittelklassen verfügen. Die Opioide, die bereits die alten Ägypter verwendeten, und die nichtsteroidalen Antirheumatika wie Ibuprofen oder Aspirin“, erklärt Prof. Lechner. Beide Klassen sind mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden und können Schmerzreize zwar flächendeckend, aber nicht präzise ausschalten. „Wir wissen aus genetischen Experimenten, dass unterschiedliche Schmerzreize von unterschiedlichen Nervenfasertypen detektiert werden. Das gibt Hoffnung, Schmerzmittel entwickeln zu können, die gezielt gegen einen bestimmten Schmerztyp wirken.“
Die Welt der Wissenschaft fasziniert Prof. Lechner schon seit Kindheitstagen. „Als junger Steppke habe ich mit Begeisterung die amerikanische Agentenserie MacGyver im Fernsehen geschaut. Wie es ihm gelang, sich mit wenigen Zutaten aus ausweglosen Situationen zu befreien, fand ich toll“, verrät er. Er selbst benutzt zur Lösung wissenschaftlicher Fragestellungen zwar andere Zutaten als Geheimagenten, doch die Faszination ist geblieben. „Wir messen die neurale Aktivität von Nervenfasern mittels Elektrophysiologie. Am Campus Forschung verfügen wir außerdem über eines von wenigen, superauflösenden Minflux-Mikroskopen, mit dem wir in ganz neue Dimensionen vorstoßen können.“
„Fühle mich pudelwohl in der Stadt"
Und in welche Dimensionen möchte er in Hamburg als nächstes eintreten? „Ich bin noch auf der Suche nach dem ultimativen Naherholungsgebiet“, sagt Prof. Lechner lachend. Wenn ihn so richtig die Wanderlust packt, geht’s Richtung Wien oder ins Ferienhaus bei Salzburg. „In Hamburg gibt’s vielleicht keine Gipfel zu erstürmen, aber ich fühle mich pudelwohl in der Stadt“, verrät er zum Schluss. Auch das platte Land scheint Prof. Lechner mittlerweile liebgewonnen zu haben.