Der Wille zu helfen


Der Angriff Russlands auf die Ukraine vor mehr als zwei Jahren löste unter UKE-Mitarbeitenden eine Welle der Solidarität aus. Auch Jonathan Vinke, Medizinstudent am UKE und Notfallsanitäter bei der Berufsfeuerwehr, entschloss sich zu helfen. Mit einem Freund gründete er die Hilfsorganisation Artesans-ResQ und etablierte in der Ukraine ein sicheres Transportsystem für Schwerverletzte – mitten im Kriegsgebiet.


Als Jonathan Vinke am 10. März 2022 zum ersten Mal die Grenze zur Ukraine überquert, steht seine Welt auf einmal Kopf. „Klar, ich kannte die Kriegsbilder schon aus den Nachrichten. Aber plötzlich war die Distanz weg“, erinnert er sich. Er sieht zehntausende Frauen, Kinder und Männer, die sich bei eisigen Temperaturen um brennende Tonnen scharen. Verletzte und verängstigte Menschen, die drei Wochen lang in Kellern Schutz gesucht und gelebt hatten. In der Luft hängt eine Mischung aus verbrannter Kohle, geschmolzenem Plastik, aus Dreck und Angst. „In diesem Moment begann ich zu begreifen, wie sich Krieg anfühlt.“

Doch zurück zum Anfang. Was bewegt einen Medizinstudenten im vierten Semester dazu, freiwillig in ein Kriegsgebiet zu gehen? „Der Zufall und der Wille zu helfen“, sagt Vinke. Bei einem der ersten russischen Luftangriffe in Charkiv werden die Großeltern seines in Deutschland lebenden ukrainischen Freundes schwer verletzt. „Er bat mich um Unterstützung, sie aus dem Land zu bringen.“ Nach kurzer Überlegung organisiert Vinke mit Hilfe unter anderem seiner Feuerwehr-Freund:innen ein Rettungsteam und macht sich auf den Weg. Bereits drei Monate später entsteht aus dem kleinen Hilfskonvoi die gemeinnützige Organisation Artesans-ResQ – finanziert durch die Europäische Kommission und in Partnerschaft mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie dem ukrainischen Gesundheitsministerium. Ihr Auftrag: der Transport Schwerverletzter in Krankenhäuser innerhalb und außerhalb des Landes.

Rund um die Uhr

Zwölf Hauptamtliche und zahlreiche Ehrenamtliche, darunter Intensivmediziner:innen, Pflegefachpersonen und Notfallsanitäter:innen verschiedener Nationen, sind für Artesans-ResQ rund um die Uhr im Einsatz. Mit vier Rettungswagen und einem zur Intensivstation ausgebauten Reisebus transportieren sie pro Monat etwa 150 Schwerstverletzte weg von der Front in eine Klinik der Maximalversorgung. Dabei legen sie etliche Kilometer zurück – stundenlange Fahrten, in denen sie die Patient:innen stabil halten müssen, während über ihren Köpfen russische Drohnen mit Sprengkörpern hinwegjagen. Ob er manchmal Angst habe? „Weniger um mich als um mein Team“, sagt Vinke. Nicht nur wegen der Raketenangriffe, auch aufgrund der Verkehrsbedingungen. „Wir sind oft in schwerem Gelände unterwegs. Die Straßen kaputt, kein Licht, nichts.“

Angst verspürt Vinke manchmal auch, wenn sein Team nach einem Großangriff zum Einsatz gerufen wird. „Weil wir wissen, was Artilleriegeschosse anrichten können“, ergänzt er leise. Am häufigsten begegnen ihnen Verbrennungen, schwere Abdominal- und Gesichtsverletzungen durch herumfliegende Metallteile und Amputationen.

Neue Kraft nach besonders schweren Einsätzen schöpfen die Helfer:innen im Team – und aus Geschichten, die trotz ihrer Schwere ein gutes Ende finden. Wie im Fall des 15-jährigen Roman. Nach einem Luftangriff auf ein Krankenhaus, bei dem er seine Mutter verliert, kommt er mit schwersten Verbrennungen und zahlreichen Frakturen in eine Klinik nach Deutschland. „Wir dachten nicht, dass er den Transport überlebt.“ Doch Roman schafft es. Heute kann er wieder lachen und ist ein aktiver Junge, mit dem Vinke nach wie vor Kontakt hält.


Wissen weitergeben

Auch die Ausbildung ukrainischer Rettungskräfte zur Durchführung von Intensivtransporten ist Teil der Mission. Ein ganz neues System, das es in der Ukraine bislang nicht gab. „Wir trainieren medizinisches Personal aus dem ganzen Land nach dem Prinzip ‚Train the Trainer‘“, erklärt der Notfallsanitäter. So sollen ausgebildete Fachkräfte ihr neu erworbenes Wissen in einer Art Schneeballsystem an Kolleg:innen weitergeben. Der Gedanke dahinter: „Etwas dazulassen, wenn wir gehen, von dem das Land nachhaltig profitiert.“ Darüber hinaus erarbeitet Artesans-ResQ derzeit unter dem Dach der WHO standardisierte, medizinische Richtlinien zum Transport von kritisch Verletzten im Konflikt- oder Katastrophenkontext. „Unser Ziel ist es, sie in naher Zukunft global zur Verfügung zu stellen, sodass sie von sämtlichen WHO-Mitgliedsstaaten abgerufen werden können.“

Seit Jonathan Vinke erstmals die ukrainische Grenze überquerte, hat er mehr als 800 Intensivpatient:innen transportiert. Ab jetzt will er sich mehr der Entwicklungsarbeit im Land widmen. Auch sein Medizinstudium würde er zum Wintersemester gern wieder aufnehmen. Bis wann er den Einsatz in der Ukraine fortsetzen wird? „So lange wir gebraucht werden. Wir können hier nicht einfach weggehen.“




Text: Nicole Sénégas-Wulf, Fotos: Artesans-ResQ