Mutanten im Visier
Welche Mutanten sind schon in der Stadt, und wie schnell breiten sie sich aus? In welchen Stadtteilen häufen sich die Infektionen? Ein im UKE in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Pette-Institut (HPI) etabliertes SARS-CoV-2-Überwachungs- und Frühwarnsystem soll kontinuierlich Aufschluss über das Infektionsgeschehen in Hamburg geben und dazu beitragen, die Pandemie zu bewältigen. „Wir sind gut gerüstet“, sagt Prof. Dr. Nicole Fischer vom Institut für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene.
Das Coronavirus verändert sich permanent durch zufällige Kopierfehler im Virusgenom, sogenannte Mutationen. Von manchen Veränderungen profitiert das Virus, es vermehrt sich schneller, dringt leichter in die Zielzellen ein oder entwickelt einen Schutz vor dem Abwehrsystem des Wirtes. Solche Veränderungen haben die Forschenden besonders im Blick, indem sie die Genome sequenzieren und analysieren. „Die brasilianische und die südafrikanische Mutante sind in Hamburg bisher Einzelfälle“, betont Prof. Fischer. Die britische Variante breitet sich jedoch schnell aus, ihr Anteil stieg von 5 Prozent Mitte Januar auf 30 Prozent in der zweiten Februarwoche; aktuell wird bereits mit rund 50 Prozent gerechnet. „Die steigenden Infektionszahlen und die damit einhergehende Belastung des Gesundheitssystems bereiten uns Sorgen. Es ist wie ein Rennen mit offenem Ausgang zwischen der Verbreitung der britischen Virusvariante und dem Voranschreiten der Schutzimpfung“, erläutert die Virologin.
Die Genomsequenzierung hat einen weiteren Vorteil gegenüber der bloßen Testung, es lassen sich zusammenhängende Infektionsgeschehen und Übertragungswege ableiten. Verteilungsmuster identischer genetischer Sequenzen können Rückschlüsse auf den Übertragungsort liefern, wenn zusätzliche Daten wie zum Beispiel Geodaten erhoben werden: „Wir haben bei unseren Untersuchungen identische Genotypen gefunden, die lokal gehäuft vorkommen. Das ist nicht überraschend, denn dann handelt es sich zumeist um Übertragungen in den selben Haushalten“, so Nicole Fischer. „Wir haben aber auch identische Genotypen gefunden, die über die ganze Stadt verteilt waren. Diese Personen, so unsere Schlussfolgerungen, müssen etwas gemeinsam haben, etwa den Arbeitsplatz.“ Auch bei Ausbrüchen in Schulen oder Pflegeheimen könne man auf diese Weise feststellen, ob es zu Übertragungen vor Ort gekommen ist oder mehrere Infektionen von außen in die Einrichtungen getragen wurden.
Identische Virusgenome bei Vielzahl Erkrankter
Prof. Fischer und ihr Team waren unter anderem an der Untersuchung eines Ausbruchs in einem großen Fleischverarbeitungsbetrieb im vergangenen Frühjahr beteiligt. „60 Prozent der Arbeiter einer Rinderzerlegehalle waren infiziert, alle wiesen identische Virusgenome auf.“ Die körperlich schwere Tätigkeit, die niedrige Temperatur in der Halle, ungünstige Belüftung und ein infizierter Arbeiter, ein sogenannter Superspreader, führten zur Verbreitung des Virus über eine große Distanz von mehr als acht Metern. „Eine Konsequenz aus unseren Ergebnissen war, dass die Lüftung in dem Betrieb verändert wurde.“
Lange Zeit wurde die Relevanz der systematischen Genomsequenzierung von SARS-CoV-2 offenbar unterschätzt: „Frühere Anträge von uns und anderen Einrichtungen auf Forschungsfördermittel wurden abgelehnt“, berichtet Prof. Fischer. UKE und HPI forschten gemeinsam weiter – auf eigene Kosten. Man investierte in die Informatik zur Auswertung und Darstellung der Ergebnisse, den Aufbau einer Datenbank sowie die Logistik der Probenbeschaffung. „Dadurch sind wir jetzt bestens aufgestellt.“ Inzwischen werden UKE und HPI von der Freien und Hansestadt Hamburg mit rund 377.000 Euro gefördert.
Lokale Sicht auf das Infektionsgeschehen
Ihre Überwachungsplattform als Frühwarnsystem ist die Hamburger Antwort auf die „Coronavirus-Surveillance-Verordnung“ des Bundesgesundheitsministeriums. Die Verordnung verpflichtet bundesweit Labore für Primärdiagnostik zur SARS-CoV-2-Virus-Genomsequenzierung eines Anteils ihrer Proben. Die Daten werden ans Robert-Koch-Institut (RKI) geschickt, das auf diese Weise einen schnelleren Überblick über das Infektionsgeschehen gewinnen soll. Die Hamburger Plattform bietet eine lokale Einsicht in das Infektionsgeschehen, was wichtig für die Behörden vor Ort ist. Sie wird von UKE und HPI gemeinsam betrieben; beide arbeiten im Bereich Virusgenomik seit Jahren eng und erfolgreich zusammen. Seit dem ersten Corona-Fall in der Hansestadt hat man das Virusgenom aus den Proben von Infizierten sequenziert, also das Erbgut mit seinen rund 30.000 Basenpaaren mit Hochdurchsatztechnologie ausgelesen, analysiert und die Ergebnisse in öffentliche Datenbanken gestellt. „Mittlerweile haben wir mehr als 2200 Gesamtgenome sequenziert“, berichtet die Professorin für molekulare und diagnostische Virologie.
„Als Virologin fasziniert mich die Pandemie natürlich fachlich. Aber ich merke, dass es nach einem Jahr doch an die Substanz geht“, sagt Prof. Fischer, die frühmorgens oder spätabends an der Elbe spazieren geht, weil die Wege dann leer genug sind, um Ruhe zu haben und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Seit 2006 arbeitet sie im UKE, zuvor war sie sieben Jahre in San Francisco als Virologin aktiv. „Was bist du? Biologin?“ Die Frage hat sie früher öfter gehört. „Heute brauche ich nichts mehr zu erklären. Die Pandemie hat unseren Berufszweig enorm nach vorn gebracht.“