Neue Freiheit im eigenen Körper
Laut WHO leben weltweit über 650 Millionen Erwachsene mit Adipositas – einer anerkannten Zivilisationskrankheit, mittlerweile als Epidemie belegt. Der Kampf gegen Übergewicht sei daher zuvorderst eine Kopffrage – darin sind sich Anna-Lena Siebenbrodt, Elke Bruemmerhoff und André Meyer trotz unterschiedlicher Therapiewege einig.
Wenn sich Anna-Lena Siebenbrodt an das entscheidende Telefonat aus dem UKE erinnert, wird sie emotional. Denn: Den ersten Kontakt hatte sie just an ihrem 33. Geburtstag im Herbst 2022 aufgenommen. „Meine Freundin Sabrina hatte selbst eine Magenbypass-OP und viel abgenommen dadurch. Sie gab mir den Anstoß, mir wegen meines Übergewichts endlich professionelle Hilfe zu holen und mich ans UKE zu wenden“, erinnert sie sich an ihren persönlichen Schlüsselmoment. So kommt der Rückruf für den Termin zur Erstvorstellung im Universitären Adipositas-Centrum wie ein nachträgliches Geschenk schon vier Tage später – weil jemand anderes abgesagt hatte.
Erschöpft, müde, depressiv
Ihren Weg bis zu dieser Wende schildert die gebürtige Lüneburgerin in kurzen Etappen wie aus einem anderen Leben: „Ich war eigentlich immer dick, zumindest seit ich zehn Jahre alt war“, berichtet sie rückblickend. „Meine Mutter war alleinerziehend und musste arbeiten gehen. Mit meinen Schwestern waren wir zu Hause öfter uns selbst überlassen – Essen macht eben glücklich.“ So nahm sie Fettiges und Süßes zu sich, von allem zu viel. Im Erwachsenenalter erhält Siebenbrodt zwei Zufallsbefunde, die ihre Gesundheit zusätzlich belasten: eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse im Rahmen einer Gallenkolik 2018 sowie vor fünf Jahren eine chronische Fettverteilungsstörung, ein Lipödem, von dem vor allem ihre Beine betroffen sind. „So kam vieles zusammen: Ich war erschöpft, müde und depressiv“, bringt die 34-Jährige ihre damalige Situation auf den Punkt.
Bei ihrer Erstvorstellung im UKE im November 2022 wiegt sie bei einer Größe von 1,68 Metern 153 Kilogramm, das entspricht einem Body-Maß-Index von 53 – weniger als die Hälfte gilt für Frauen in ihrem Alter als normal. „Ich dachte immer, Kleider machen Leute“, beschreibt Siebenbrodt ihre geschönte Perspektive auf sich selbst, „aber in meinem Umfeld wurde ich für meine Fülle durchaus auch gemobbt.“ Ein Kollege auf der Arbeit beleidigt sie unflätig – ihren Job als Reinigungskraft muss die junge Frau schließlich aufgeben, weil sie ihre Arbeit rein körperlich nicht mehr bewältigen kann. Siebenbrodt aber bleibt positiv: „So konnte ich mich voll auf meine Therapie konzentrieren“, erklärt sie. Dabei sei ihr von vornherein klar gewesen, dass sie sich auch operieren lassen möchte, um ihrem Wunschgewicht näher zu kommen.
Mit der OP allein ist es nicht getan
Das Adipositas-Centrum des UKE bietet ein breites Spektrum sogenannter bariatrischer Operationen an, bei denen durch Veränderungen an Magen und/oder Darm Gewicht reduziert werden soll. Anna-Lena Siebenbrodt wurde der Schlauchmagen empfohlen – der häufigste Ersteingriff bei stark übergewichtigen Menschen, der eine geringere Operationsdauer als etwa der Magenbypass mit sich bringt. „Aber natürlich musste ich dafür auch was tun“, weiß Siebenbrodt, „ich musste ein halbes Jahr Reha-Sport, eine Ernährungstherapie machen und zur Psychologin.“ Das alles, sagt sie, sei wichtig, denn: „Mit der OP allein ist es nicht getan. Man muss sein Leben umstellen.“ Für die Operation selbst, die im September 2023 minimalinvasiv in der sogenannten Schlüssellochtechnik durchgeführt werden konnte, musste Siebenbrodt vier Tage lang in der Klinik verbringen. Immer an ihrer Seite: ihre Schwestern und ihre Freundinnen. „Ich habe die beste Unterstützung, die man sich wünschen kann“, sagt sie stolz. Wenn sie nicht täglich miteinander telefonieren, treffen sie sich gern im Uelzener Café zum Austausch und zur gegenseitigen Motivation, ihr Leben zu meistern. Langfristig Gewohnheiten umzustellen, bedeutet auch, sich nach der OP erst wieder an Ernährung zu gewöhnen. „Das waren verschiedene Phasen“, berichtet Siebenbrodt, „ich habe erst nur Flüssiges zu mir genommen, dann nach und nach feste Nahrung. Ich sollte viel trinken, mit Kohlensäure vorsichtig sein.“ Heute nimmt sie zwei Mahlzeiten pro Tag zu sich, für die sie viel Zeit einplanen muss. Nährstoffe wie Vitamine, Zink, Jod oder Eisen führt sie gesondert zu. „Ich esse nur noch halbe Portionen, besuche keine Restaurants mehr“, erklärt sie, „das macht mir aber nichts aus. Die Freude darüber, dass ich inzwischen insgesamt 50 Kilogramm abgenommen habe und mir jetzt so vieles leichter fällt, wiegt eindeutig schwerer.“
Gesünder, leichter, besser
Diese Freude ist Anna-Lena Siebenbrodt anzumerken: Ihre Augen strahlen, sie liebt es, auf ihr Äußeres zu achten, sich zurecht zu machen und jetzt auch wieder Mode shoppen zu können, die ihr gefällt. Lieblingssongs von Popsängerin Adele singt sie lippensynchron mit, filmt sich selbstbewusst dabei, stellt die Aufnahmen in ihren Handystatus. In den sozialen Medien ist sie mit anderen bariatrisch Operierten vernetzt, macht ihnen Mut, tauscht Erfahrungen aus. „Durchhalten und nicht auf negative Kommentare von anderen hören“, lautet dabei ihre Devise. Auch eine neue Arbeit im Einzelhandel hat sie gefunden – mit besserem Klima und netteren Kolleg:innen. „Früher konnte ich nach Feierabend nur noch auf dem Sofa chillen – heute bin ich dankbar, wenn ich noch eine Runde Fahrrad fahren, mit meinen Freundinnen spazieren gehen oder im Fitnessstudio trainieren kann“, betont Siebenbrodt. „Weil ich verstanden habe, was Bewegung bedeutet.“ Weiterhin lässt sich Siebenbrodt psychologisch begleiten, geht einmal monatlich zur Ernährungstherapie, alle zwei bis drei Monate zur Nachsorge ins UKE. Und auch neue Ziele hat sie sich schon gesteckt: „Ich will noch weitere Kilos abnehmen, damit ich mich noch wohler in meiner Haut fühle“, so der Wunsch. Und wer ihr beim Radeln auf dem Mountainbike hinterherschaut, ahnt: Die Vorzeichen dafür stehen gut.
Die Spritze gab nur den Anstoß
Nicht zuletzt haben sich André Meyers Blutwerte verbessert: „Abnehmen ist vor allem eine Kopfsache“
Einen individuellen Weg zum Wunschgewicht verfolgt auch André Meyer. Der ehemalige Flugzeugmechaniker leitete zuletzt ein Wartungsteam bei der Deutschen Lufthansa. „Ich war viel unterwegs, habe mich abends nach anstrengenden Arbeitstagen mit Essen aufgebaut“, erinnert sich der 63-Jährige. „Jetzt bin ich in Rente. Langeweile kommt da immer noch nicht auf, aber mein Coaching und mein Sport sind heutzutage meine Belohnung. Zucker esse ich kaum noch!“ Sein wöchentliches Highlight sei seither das Treffen mit seinen erwachsenen Söhnen in der Schwimmhalle.
Auslöser dafür, dass Meyer überhaupt erkannte, abnehmen zu müssen, seien der anstrengende Kauf eines Anzugs und ein Selfie gewesen, was ihm sein Übergewicht unverblümt vor Augen geführt hätte. „Eine befreundete Ärztin machte mir überdies klar: André, wenn du so weitermachst, kriegst du Diabetes und endest eines Tages an der Dialyse“, erinnert sich Meyer. Sie überwies den Neugrabener im vergangenen Jahr an die Praxis des Universitären Adipositas-Centrums des UKE in Harburg. „Dort habe ich mich vom ersten Tag an super aufgehoben gefühlt“, so Meyer.
Die zuständige Ärztin riet ihm zur sogenannten Abnehmspritze. „Ich bin mit kleinen Milligramm-Mengen eingestiegen, habe diese langsam gesteigert“, erläutert Meyer, „ich hatte dabei nur leichte Nebenwirkungen, etwas Übelkeit bis zu einer Stunde lang nach der Spritze.“ Inzwischen setze er sich 1,5 Milliliter wöchentlich. Die Kosten von rund 200 Euro pro Monat trägt er selbst, sie werden derzeit noch nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen.
„Aber, wenn man ehrlich ist: Die Spritze war nur der Anstoß für meine Lebensumstellung – die vor allem eine Kopfsache ist“, so Meyer. 20 Prozent mache dabei das Medikament aus – der Rest seien Sport und gesundes Essen. Alle vier Monate wird Meyer beim Arzt in der Praxis, alle sieben Monate bei der Ernährungsberaterin vorstellig. Stand heute hat Meyer 18 Kilo innerhalb eines Jahres abgenommen, 15 Zentimeter an Bauchfett verloren. „Auch meine Blutwerte haben sich verbessert, alles fällt leichter“, resümiert er. Sein ganzer Stolz: die Erinnerungsfotos von der 80er-Jahre-Motto-Party zum runden Geburtstag seiner Frau. Das Kostüm dafür habe er sich nämlich eine ganze Nummer kleiner als zuvor nötig bestellen können.
Man muss Geduld haben
Elke Bruemmerhoff: „Abzunehmen ist ein langer Weg, Stagnation ist normal, davon sollte sich niemand entmutigen lassen“
Um sich zum Schlankbleiben zu motivieren, braucht Elke Bruemmerhoff ebenfalls nur in den Spiegel zu blicken. „Ich bin einfach viel beweglicher geworden“, sagt sie, und daran möchte sie festhalten. Die Kaufmännische Angestellte weiß aber auch: „Abzunehmen ist immer ein langer Weg, Stagnation ist normal, davon sollte sich niemand entmutigen lassen.“
Bruemmerhoff zählt zu dem geringen Prozentsatz derer, die allein durch eine Lebensstilintervention Gewicht verlieren konnten – bei ihr sind es über 40 Kilo innerhalb eines Jahres auf ein heutiges Gewicht von 95 Kilo. Hierfür hat sich die 60-Jährige ein umfangreiches Wissen über gesunde Ernährung angeeignet. Die Umstellung wurde nach einem Klinikaufenthalt und dauerhaft zu hohem Blutdruck nötig – „der Wert war schon an die 200 und damit auf höchster Warnstufe“, erinnert sich Bruemmerhoff.
Als Kind sei sie auf dem Land groß geworden, habe sich immer viel an der frischen Luft bewegt, sei schlank gewesen. Erst im Laufe ihres stressigen Berufslebens mit wenig geregelten Arbeitszeiten sei sie übergewichtig geworden. In ihren, wie sie sagt, „besten Zeiten“ habe sie einen BMI von über 50, damit Adipositas Stufe 3, gehabt.
Auf Rezept ihrer Hausärztin nahm sie 2023 schließlich sechs Termine zur Ernährungsberatung in der Harburger Praxis des Adipositas-Centrums des UKE wahr. „Die Therapeutin erklärte mir, welche Lebensmittel gut sind, in welchem Verhältnis man diese zueinander essen und wie viel Sport man treiben soll, um überhaupt abnehmen zu können – und dass man Geduld haben muss, besonders, wenn man ohne chirurgischen Eingriff oder Medikamente Gewicht verlieren möchte“, erinnert sich Bruemmerhoff.
Heute setzt der glücklich geschiedene Single auf drei statt zwei Mahlzeiten pro Tag, um Snacks zu vermeiden, lässt Pausen von bis zu fünf Stunden zwischen den Mahlzeiten – und verzichtet auf Zucker, Fette und Fertigwaren. Gerade von Hamburg zurück aufs Land nach Niedersachsen gezogen, liebt sie es, regionale und saisonale Lebensmittel auf den hiesigen Wochenmärkten einzukaufen. „Mein neuer Job lässt es jetzt viel eher zu, dass ich mir in Ruhe abends meine gesunden Speisen frisch zubereite“, berichtet Bruemmerhoff. „Mein Körper hat sich umgestellt – ich bin daher zuversichtlich, nicht erneut zuzunehmen, sondern noch weitere fünf Kilo abnehmen zu können.“