Wettlauf gegen die Zeit
Wird ein Schlaganfall rasch versorgt, stehen die Heilungschancen dank moderner Therapien heute sehr gut. Doch was, wenn der Zeitpunkt unklar ist, weil sich der Schlag im Schlaf ereignete und die Symptome erst beim Aufwachen spürbar werden?
Bislang waren diese Patienten von der schnellen, Gerinnsel auflösenden Behandlung ausgeschlossen. Das wollen Prof. Dr. Götz Thomalla, Leiter der Arbeitsgruppe für Klinische Schlaganfallbildgebungsforschung der Klinik für Neurologie, und sein Team ändern. Rund 80 Prozent der Schlaganfälle gehen auf ein Blutgerinnsel zurück, das die Versorgung von Blutgefäßen im Gehirn kappt. Diese ischämischen Schlaganfälle können heute sehr erfolgreich mittels einer Thrombolyse-Therapie behandelt werden. „Dabei wird dem Patienten eine Infusion mit dem Enzym rt-PA verabreicht, welches das Blutgerinnsel auflöst, so dass das Blut wieder ungehindert fließen und die betroffenen Hirnregionen versorgen kann", erklärt Prof. Thomalla. Je früher dies geschieht, desto geringer ist das Risiko bleibender Schäden. Doch jeder fünfte Schlaganfall ist ein sogenannter „Wake-Up Stroke", das heißt, er passiert im Schlaf und wird erst beim Aufwachen bemerkt. „Weil bei diesen Patienten der genaue Zeitpunkt des Hirninfarkts im Dunkeln liegt, können sie derzeit nicht von der Thrombolyse-Therapie profitieren, da diese den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge nur in einem Zeitfenster von viereinhalb Stunden nach Symptombeginn wirksam ist. Dabei könnte die Therapie auch vielen dieser Patienten helfen."
Zur rechten Zeit
Doch wie lässt sich der Zeitpunkt eines Schlaganfalls bestimmen? Seit Jahren loten Wissenschaftler Möglichkeiten aus, wie bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) genau hierfür genutzt werden könnten. „Vor einiger Zeit entdeckten wir in MRT-Aufnahmen von Patienten, die frühzeitig in die Stroke Unit gekommen waren, ein wiederkehrendes Muster", so Prof. Thomalla. Es schien so, als könne sich das Alter des Hirninfarkts durch die Kombination von zwei speziellen MRT-Sequenzen rekonstruieren lassen.
Gemeint sind die MRT-Aufnahmetechniken Diffusionsbildgebung und FLAIR, die bei Schlaganfallpatienten rasch hintereinander durchgeführt werden. Im Diffusionsbild wird in den vom Schlaganfall betroffenen Regionen eine pathologische Wasserverschiebung ins Innere der Zellen sichtbar. Eine solche intrazelluläre Schwellung tritt bei Hirninfarkten binnen Minuten als Folge des akuten Sauerstoffmangels auf, der die Zellen quasi sofort „elektrisch lahmlegt". In einer späteren Phase des Hirnschlags kommt es zum zusätzlichen Wassereinstrom aus den geschädigten Blutgefäßen. Genau diese Wassereinlagerungen (Ödeme) in den Zellzwischenräumen sind in der FLAIR-Aufnahme erkennbar und ermöglichen damit die zeitliche Einordnung.
Ihre Beobachtungen konnte die Arbeitsgruppe in verschiedenen Vorarbeiten untermauern. Bei der Untersuchung von 543 Patienten, bei denen der Zeitpunkt der ersten Symptome bekannt war, stellten sie fest: War der Infarkt im Diffusions-, aber noch nicht im FLAIR-Bild sichtbar, war er meist jünger als 4,5 Stunden. Konkret erlaubte ein solches sogenanntes „Mismatch" in etwa 90 Prozent der Fälle, den Zeitpunkt des Schlaganfalls korrekt einzuordnen; bei größeren Infarkten war die Präzision noch höher.
Der Weg in die klinische Routine
Um die Beurteilung der MRT-Bilder zu systematisieren, entwickelten die Wissenschaftler im Zuge ihrer Forschungen eine spezielle Software sowie ausführliches Dokumentationsmaterial. Ob diese Technik regelhaft in der Diagnostik zum Einsatz kommen kann, prüfen Mediziner unter Leitung von Prof. Dr. Christian Gerloff, Direktor der Klinik für Neurologie, und Prof. Thomalla in der von ihnen selbst initiierten multizentrischen Studie „Wake-Up". Über 70 Zentren aus acht europäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Österreich und Spanien) nehmen an dem Projekt teil, das die Europäische Union mit 11,6 Millionen Euro fördert. „In den letzten fünf Jahren haben wir MRT-Daten von über 1300 Patienten gesammelt und untersucht", sagt Thomalla.
Um die Wirksamkeit des neuen Therapieansatzes zu beweisen, ordneten die Mediziner die Patienten per Zufallsprinzip zwei unterschiedlichen Gruppen zu. Eine Gruppe wurde mit dem Studienmedikament, der intravenösen Thrombolyse, behandelt. Die andere erhielt ein Scheinmedikament (Placebo). Dabei wissen weder Arzt noch Patient, wer zu welcher Gruppe gehört. „Nur so lässt sich der Effekt einer medikamentösen Behandlung zweifelsfrei nachweisen", erklärt Prof. Thomalla.
Etwa 24 Stunden nach der Behandlung erfolgte eine Kontrollbildgebung, um die Größe des endgültigen Schlaganfalls zu bestimmen. Drei Monate später wurde in einer abschließenden Untersuchung der therapeutische Langzeiteffekt überprüft und in einer Datenbank festgehalten. Ende September 2017 erfolgte die letzte Verlaufsuntersuchung. „Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse und hoffen, zukünftig unabhängig vom Zeitfenster des Schlaganfalls ausschließlich anhand von MRT-Aufnahmen entscheiden zu können, ob eine Thrombolyse-Therapie in Frage kommt oder nicht", so der Studienleiter.
Wenn dem so ist, hat das Thomalla-Team schon einmal hochgerechnet: Europaweit könnten dank neuem Diagnostik-Konzept und sich daraus ändernder Therapie bei mehr als 10 000 Menschen Behinderungen nach Schlaganfällen verhindert werden.
Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Axel Kirchhof