RECOVER – Psychische Gesundheit im Fokus
Vor einer psychischen Krise ist niemand geschützt. Wichtig ist dann eine schnelle und gezielte Hilfe. Doch daran mangelt es oft im deutschen Gesundheitswesen. Das soll sich mit dem Projekt RECOVER ändern: Prof. Dr. Martin Lambert und sein Team entwerfen und testen den organisatorischen Rahmen für die psychische Versorgung der Zukunft.
„Im deutschen Versorgungssystem liegen viele Dinge im Argen“, sagt der Psychiater, der mit gut einem halben Dutzend weiterer UKE-Kolleg:innen dem Leitungsteam des Projekts angehört. RECOVER – auf Deutsch: (wieder) gesund werden – sei der Versuch, diese Dinge zusammenzufassen und die Probleme bei Diagnostik, Beratung und Behandlung psychischer Erkrankungen systematisch zu lösen. Damit der große Wurf auch tatsächlich gelingt, wurden in Hamburg alle Institutionen ins Boot geholt: Behörden, Krankenkassen, psychosoziale Dienste, Krankenhäuser, Ärzt:innen-, Psychotherapeut:innen- und Patient:innenverbände.
„Das RECOVER-Versorgungsmodell ist ein schweregradgestuftes und sektorenübergreifend koordiniertes Versorgungsmodell“, erklärt Prof. Lambert und verweist auf ein Schaubild, das die Idee des Projekts zusammenfasst: eine Pyramide. Die breite Basis bilden die vielen Patient:innen mit leichten psychischen Problemen. Mit zunehmender Schwere der Erkrankungen nimmt die Zahl der Betroffenen ab. Die Spitze steht für die relativ wenigen Schwerkranken.
Schnelle Hilfe: Psychotherapie in nur zwei Wochen
Was aber ändert sich durch RECOVER konkret für einen Menschen, der in einer psychischen Krise Hilfe benötigt? „Dann gehen Sie zur Hausärzt:in“, sagt Prof. Lambert. Im RECOVER-Modell, wie es in Hamburg und im ländlichen Kreis Steinburg erprobt wird, sei diese:r Teil eines Netzwerks. „Sie:Er gibt Ihnen unsere Nummer. Innerhalb von zwei Tagen erhalten Sie einen Termin bei uns. Sie werden dann durch ein Team mit vielfältigen Kompetenzen betreut. Benötigen Sie eine Psychotherapie, organisieren wir das und besprechen uns mit den Therapeut:innen. Die normale Wartezeit für eine Psychotherapie beträgt in Hamburg vier bis sechs Monate. Bei uns sind es ungefähr zwei Wochen.“
Die schnelle und vor allem korrekte Diagnose durch ausgewiesene Expert:innen ist der große Vorteil des neuen Versorgungsmodells. So können früh die Weichen für den weiteren Weg richtig gestellt werden. Und weil das Behandlungsteam innerhalb des Netzwerks auch gleich die Hilfe organisiert, würden Schwerkranke, die zur Selbsthilfe kaum noch fähig sind, nicht mehr aus dem System fallen. „Gegenwärtig werden mehr Patient:innen behandelt, die leicht oder mittelgradig erkrankt sind“, so der Experte.
Das Team teilt psychisch erkrankten Patient:innen vier Schweregrade zu. „Jeder Stufe sind unterschiedliche Behandlungspakete zugeordnet, die evidenzbasiert sind“, so Lambert. Sprich: Die Wirksamkeit der Therapiemaßnahmen wurde in einer begleitenden wissenschaftlichen Studie geprüft, erste Ergebnisse belegen den Erfolg des Modells. Dabei gelte das Grundprinzip: Angefangen wird nicht mit der teuersten Intervention – sondern mit derjenigen, welche die meisten Ressourcen spart. „Wir wollen möglichst viele Krisen ambulant abfangen. Eine stationäre Behandlung ist immer nur das letzte Mittel.“ Die offene Frage ist nun, wie RECOVER in die Regelversorgung kommen kann. Hierfür bedarf es der gemeinsamen Unterstützung von Leistungserbringern und Kostenträgern.
Ein Baustein des Konzepts sind digitale Diagnostik und Therapieprogramme, für die unter dem Namen „eRECOVER“ sogar eine eigene E-Mental-Health-Plattform geschaffen wurde. Prof. Lambert sieht in den digitalen Angeboten das größte Zukunftsfeld psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung. Denn „digitale Therapien sind eine effektive Alternative“, sagt er. Der Vorteil: Patient:innen können sich einer interaktiven Videotherapie unterziehen, wann immer es ihnen passt – in der Mittagspause oder nach Feierabend.
Text: Arnd Petry
Foto: Claudia Ketels