Tausend Tage bis zum letzten Atemzug
Als beim Unkrautzupfen die Puste wegblieb, dachte Reinhard Herhold, 68: Vielleicht ein Infekt? Tatsächlich waren bereits Millionen Lungenbläschen zerstört. Kurz vor dem Ersticken blieb dem Todkranken nur noch ein Prozent Hoffnung: auf eine neue Lunge.
Etwas stimmte nicht. Reinhard Herhold, damals 65, stand auf dem Dach seiner Schreberlaube und keuchte. Vorgebeugter Oberkörper, Hände auf den Oberschenkeln. Was war los? Er hatte doch nur ein bisschen Moos gekratzt. Jetzt hetzte sein Atem wie nach einem schnellen Fünf-Kilometer-Lauf: hektisch, flach. Alles drehte sich. Luft, er brauchte Luft. Der Hobbygärtner ließ sich auf die Wellblechpappe fallen – japste, wollte Schleim abhusten. Aber da war kein Schleim. Zum Glück beruhigte sich der Puls. Die Puste kam wieder. Herhold stieg die Leiter runter, grübelte: ein Infekt?
Es war kein Infekt. „Aber wer denkt gleich an das Schlimmste, wenn mal der Kreislauf spinnt?“, fragt der Rentner. Vier Jahre nach dem Tag im Schrebergarten sitzt er in seinem Wohnzimmer in Warnemünde: Nicht mehr der Typ breite Schultern, starke Arme, der nach der Attacke im Garten noch zum Beachvolleyball radelte: 95 Kilo schwer, 1,80 Meter groß, sportlich, gesund. Der nicht ahnte, dass gerade auf dem Dach der erste seiner letzten Tage begonnen hatte. Es war ein Donnerstag. Abends probte die Big Band. Herhold blies die Trompete. Noch 1000 Tage. In seiner Lunge hatte bereits das Sterben angefangen.
Fibronale Erscheinungen. „Ach, das kann ein Nebel sein“, beruhigte der Hausarzt sechs Wochen später, als die Röntgenbilder kamen. Zu Hause schnaufte Herhold die Treppe hoch: drei Stockwerke, viele Pausen. Auf dem Sofa kamen die Zweifel. Er hat gegoogelt und bekam mitten im Sommer eine Gänsehaut, als er von der „Narbenlunge“, der Lungenfibrose, las: „Lebenserwartung drei bis fünf Jahre.“
Warnemünde. Die Staubkörner tanzen im Wohnzimmer, im warmen Sonnenlicht. Es ist nicht leicht zu erklären, wie man sich fühlt, wenn das Leben plötzlich endlich wird, einerseits. Minuten länger als Stunden erscheinen, andererseits, weil jede Sekunde nur noch ein Ringen ist: nach Luft. „Wie viele Atemzüge habe ich noch bis zum letzten Atemzug?“, hat sich Reinhard Herhold immer wieder gefragt. Die Big Band traf sich schon lange ohne ihren Trompeter. Das Instrument lag verpackt in einer Kiste. „Verkauf es, wenn ich nicht mehr da bin“, hatte er zu seiner Frau gesagt.
Sein Leben hing nur noch an einem dünnen Sauerstoffschlauch und an einem Prozent Hoffnung: auf ein Spendeorgan. Die letzte Chance, die einzige Rettung für todkranke Lungenfibrose-Patient:innen. Herhold ist einer von 13 Kranken, die im vergangenen Jahr am Universitären Transplantations Centrum im UKE eine neue Lunge bekamen. „Am 24. Juni 2022 wurde ich ein zweites Mal geboren“, sagt er – nur zwei Tage, nachdem sein Name auf die Dringlichkeitsliste gesetzt wurde.
„Ein Wunder“, sagt Veronika Herhold, 68, und streicht verstohlen eine Träne aus den Augen. Es sind andere Tränen als vor der Operation, Freudentränen. Sie hockt in dem Sessel, in dem ihr Mann immer zusammensackte, weil er den Weg vom Schlafzimmer ins Bad nicht mehr schaffte. Fünf Meter. Pause, dann weiter. Bis gar nichts mehr ging. Später hat sie jeden Tag an seinem Bett in einer Rostocker Klinik gesessen. Sie blinzelt und wiederholt noch einmal: „Ein Wunder.“
Im Flur hängen Fotos: Tage im Schrebergarten. Herhold am Grill. Herhold mit seinen Söhnen in der Hollywoodschaukel. Herhold mit seinen fünf Enkel im Planschbecken. Ein kräftiger Opi, ein Anpacker. Als er ins Krankenhaus kam, waren seine Arme fast so dünn wie ein Besenstil. Er konnte nur noch flüstern, wenige Worte: „Ich kann nicht mehr.“ Dann Stille, bis auf das schnelle Hecheln, das so typisch für Fibrosepatient:innen ist. Seine Frau schluchzte: „Ganz sicher kommt ein Spendeorgan.“ Das Beatmungsgerät presste Luft in Herholds Lungen. Dort hatte wildes Bindegewebe bereits Millionen Lungenbläschen, sogenannte Alveolen, zerstört, die wie winzige Trauben an den Zweigen der Bronchiolen hängen.
Gesunde Menschen haben mehr als 300 Millionen „Trauben“. Hier tanken die roten Blutkörperchen täglich rund 10.000 Liter Sauerstoff. Es ist die Energie, die Muskeln und Organe zum Leben brauchen. Ohne Energie keine Kraft. Herhold konnte nicht mehr essen oder trinken. Über einen Tropf floss Astronautenkost in seine Venen. Morphiumspritzen lagen bereit, ebenso die Zusage für einen Palliativplatz.
Etwa 8500 todkranke Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spendeorgan. „Sie leben in einem Ausnahmezustand, der weit über die Grenzen der seelischen Belastbarkeit geht“, sagt Christine Oelschner, Transplantationsbeauftragte im UKE. Da sind die körperlichen Schmerzen, aber auch die Panik, die kommt, weil der Körper an piependen Monitoren hängt und mit jedem Tag die Hoffnung schwindet: 2021 gab es bundesweit nur 933 Spender:innen, so die Deutsche Stiftung für Organtransplantation.
„Zeit ist so wertvoll. Mein Gott, sie ist so wertvoll“, sagt Reinhold Herhold. Gestern hat er im Garten Tomaten, Kartoffeln und Gurken geerntet. Im vergangenen Jahr war daran nicht zu denken, weil in seiner Lunge schon zu viel Bindegewebe wucherte. Bisher ist es der Forschung noch nicht gelungen, die Vorgänge der chronischen Krankheit zu entschlüsseln, an der mehr Männer als Frauen leiden. Dabei kommt es in den tautropfengroßen Lungenbläschen zu Entzündungen. Gewebshormone sorgen dafür, dass sich die Wunden schließen. Dabei bleiben Narben zurück. Am Ende sind die elastischen Bronchialbäume vor Narben so starr und steif, dass sie aussehen wie eine geschrumpfte Honigwabe.
„Ich habe lange nichts bemerkt“, sagt Herhold, der nach dem Abitur Schiffsmaschineningenieur gelernt hat und nach der Wende 29 Jahre beim Landkreis Rostock arbeitete. Er war gerade seit zwei Jahren in Rente – extra frühzeitig, um die gemeinsame Zeit mit Frau und Familie zu genießen – als die Krankheit sich zum ersten Mal zeigte. Über sein Brustbein zieht sich eine 30 Zentimeter lange Narbe, winzige Stiche, fast verblasst. „Gott, worüber man sich früher aufgeregt hat – alles pillepalle“, sagt Herhold. Die Stimme stockt, wenn er erzählt. Nicht, weil ihm die Luft ausbleibt, ganz im Gegenteil. Vor fünf Tagen hat er bei der Nachsorge im UKE gefrotzelt: „Ich blas‘ Ihnen Ihr Messgerät kaputt.“ Tatsächlich: 107 Prozent. Wow!
Herholds Frau lacht. Er lacht auch. Das erste kritische Jahr ist überstanden. Die Wangen sind nicht mehr eingefallen, die Haut ist nicht mehr grau. Langsam kommen auch die Muckis wieder. Nicht so wie früher, als Herhold die Einkaufskörbe in den Kofferraum wuchtete, als wären darin Federn. „Aber Schmetterbälle beim Volleyball gehen wieder“, grinst der Rentner. Damit sein Körper das neue Organ nicht abstößt, muss er lebenslänglich das Immunsystem unterdrückende Medikamente, sogenannte Immunsuppressiva, schlucken. „Was soll’s, ich darf leben“, sagt er. Wieder stockt die Stimme. Da sind zu viele Gefühle, die der Verstand einfach nicht ausschalten kann: Hoffnung. Verzweiflung. Trauer. Wut.
Februar 2020: Der Lungenfacharzt sagte ihm damals: „Ich habe Patient:innen, die leben seit über 20 Jahre mit der Krankheit.“ Sommer 2021: Herhold wartet mit dem Auto an einer roten Ampel. Plötzlich ist die Luft weg. Die Ampel wird grün. Seine Frau schreit: „Reinhard, Reinhard.“ Keine Luft. Er denkt: Das war’s. Dezember 2021: Er wiegt nur noch 55 Kilo, spielt wie jedes Jahr den Weihnachtsmann. Das Kostüm schlottert am Körper. Er denkt: „Halt durch. Die Enkelkinder sollen sich an einen fröhlichen Opi erinnern.“ Januar 2022: Immer weniger Luft. Krisengespräch beim Lungenfacharzt. Der schaut aufs Geburtsdatum und sagt: „1954? Sie sind zu alt für eine neue Lunge.“
Wieder zurück im Wohnzimmer, an den Tisch mit dem weißen Spitzendeckchen. Hier hat das Ehepaar gesessen und gedacht: Vorbei? Nein! Reinhard Herhold hat wieder den Laptop aufgeklappt und gegen das Schicksal gegoogelt. Auf der Homepage des UKE entdeckte er einen Aufruf: Fibrosepatient:innen für eine Studie gesucht. Doch zu spät. Seine Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten. Die Ärzte überwiesen Herhold dennoch an die Hamburger Kolleg:innen in der Transplantationsambulanz. Und dort endlich eine gute Nachricht: Von einer strikten Altersbegrenzung war nicht die Rede.
„Viele Menschen haben immer gesund gelebt und sind auch im Alter noch unglaublich fit“, sagt Dr. Björn Sill, der am UKE das Lungentransplantationsprogramm leitet. So wie Reinhard Herhold, der wie Mitte 50 wirkte. Trotzdem ist es wie ein Sechser im Lotto, überhaupt auf die Warteliste von Eurotransplant zu kommen. Über Sein oder Nichtsein entscheidet ein Punkte-Ranking. Sill: „Nur Schwerkranke mit hoher Überlebenschance werden gelistet.“ Deshalb müssen vor der Operation Begleiterkrankungen ausgeschlossen werden, auch die Psyche spielt eine Rolle.
März 2022, der erste Gesundheits-Check im UKE. Das Transplantationsteam fragt: Was ist ihr größter Wunsch? Reinhard Herhold zwinkerte seiner Frau zu, haucht: „Die goldene Hochzeit in zwei Jahren. Wir werden es richtig krachen lassen.“ Alle lachten. So eine verrückte Idee. Um den Schweregrad von Lungenerkrankungen zu bestimmen, gibt es den Sechs-Minuten-Gehtest. Herhold schaffte keine sechs Meter – nicht einmal am Rollator.
Bei einer Lungenfibrose kann niemand exakt sagen, wie viel Zeit noch bleibt. Wenn es aber zu Ende geht, geht es schnell. Die Ärzt:innen sprechen von Exazerbation. Bei Reinhard Herhold sanken die Werte der Lunge im Juni 2022 rapide. Eigentlich ist dann der Zeitpunkt für eine Transplantation gekommen. Doch noch stand Herhold nicht einmal auf der Liste von Eurotransplant. Es fehlten die Ergebnisse vom Herzen. „Ich weiß nicht, wie ich die Untersuchung in der Röhre überlebt habe“, sagt er.
„Ein Wunder“, sagt Veronika Herhold wieder. Als am 22. Juni die Nachricht kam, dass ihr Mann gelistet war, konnte sie es kaum glauben. Und schon gar nicht, als bereits einen Tag später, abends um 23 Uhr, der Anruf aus Hamburg kam: „Wir haben eine Lunge. Sie müssen sofort kommen.“ Vier Stunden später lag er auf dem OP-Tisch.
„Ein Wunder“, sagt jetzt auch ihr Mann. „In letzter Sekunde hat der liebe Gott mein Karteikärtchen noch einmal nach hinten gesteckt.“ Stille im Wohnzimmer. Wenige Sekunden später hat sich Herhold gefasst, strahlt: „Ich kann wieder Trompete spielen.“ Seine Hände trommeln auf dem Wohnzimmertisch. Er singt: „I can’t get no satisfaction“. Er grinst: „Rolling Stones, cool.“ Vor zwei Monaten hat er das Instrument das erste Mal wieder aus der Kiste geholt, stundenlang alle seine Lieblings-Gigs geblasen. Er summt weiter: „Cause I try, and I try, and I try...“ Seine Frau Veronika sucht ein Taschentuch.