Forschen für die Seltenen

Seit mehr als 20 Jahren arbeitet und forscht Prof. Dr. Ania C. Muntau auf dem Gebiet seltener genetischer Krankheiten und angeborener Stoffwechselstörungen – bis 2014 in München, seitdem als Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im UKE. Sie gibt den kleinen Patienten Stimme und Gesicht.


Amelies erster Geburtstag war ein Tag voller Glück. Jauchzend griff sie nach den Luftballons. Unermüdlich versuchte sie alleine aufzustehen. Bald würde sie ihre ersten Schritte wagen, da waren sich Amelies Eltern ganz sicher. Eine trügerische Sicherheit. Denn tatsächlich war Amelies erster Geburtstag einer ihrer letzten fröhlichen Tage. Mit plötzlichem Durchfall und Schnupfen begann die Krise. Wenige Stunden später bekam das Kind einen epileptischen Anfall und wurde bewusstlos. Seit dem kann sie nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen, nicht mehr sprechen. Das ist jetzt zwölf Jahre her.

Wenn Ania Muntau von Amelie erzählt, spürt man ihre Betroffenheit. „Wenn Kinder so schwer krank sind, wir fieberhaft nach der Diagnose suchen, aber wenig finden und kaum helfen können, leide ich mit den Eltern mit“, sagt die Professorin. In der Notaufnahme entdeckten die Ärzte damals bei Amelie Flüssigkeitsansammlungen zwischen Hirnrinde und Gehirn, sie hatten die schwere Behinderung ausgelöst. Doch warum? Lange hat es gedauert, bis Amelies seltene Erkrankung Glutarazidurie (GA1), eine angeborene Stoffwechselstörung, erkannt wurde. Durch einen Enzymdefekt können die Aminosäuren Lysin und Tryptophan nicht richtig abgebaut werden und stauen sich daher an, meist im Gehirn. In der Folge kommt es zu schweren Bewegungsstörungen.


Schnell handeln bei fiebrigem Infekt

Auch Emma hat GA1. Doch der heute Vierjährigen blieb ein ähnliches Schicksal erspart. Bei Emma wurde der Defekt beim sogenannten Neugeborenenscreening erkannt; einer 2005 bundesweit eingeführten Reihenuntersuchung, bei der ein Blutstropfen aus der Ferse von Neugeborenen auf zahlreiche Stoffwechselerkrankungen untersucht wird. Emma geht es gut; sie erhält Medikamente und muss sich einer strengen Diät unterziehen. Doch bei jedem fieberhaften Infekt müssen die Eltern mit ihr so schnell wie möglich in die Klinik, um mit Infusionsbehandlungen schwere neurologische Langzeitschäden zu vermeiden.

„Mit dieser Behandlungskombination können wir bei 85 Prozent der Kinder eine Behinderung verhindern“, erläutert Prof. Muntau. Reicht das? „Natürlich nicht! Doch es gibt Hoffnung. Im Labor haben wir inzwischen ein präzises Verständnis für die Mechanismen der Krankheitsentstehung auf zellulärer Ebene gewonnen. Wir konnten neun Substanzen identifizieren, die sehr spezifisch die Störung in der Zelle beheben.“ Jetzt hat sie mit ihrem Team ein Projekt zur Medikamentenentwicklung gestartet. „Unsere Hoffnung ist es, kleinen Patienten mit GA1 eines Tages vollständigen Schutz vor schwerer Behinderung zu ermöglichen.“

Emma hat eine angeborene Stoffwechselstörung – dank rechtzeitiger Behandlung jedoch keine Folgeschäden
Lupe zum Vergrößern des Bildes
Emma hat eine angeborene Stoffwechselstörung – dank rechtzeitiger Behandlung jedoch keine Folgeschäden
Glücklich und putzmunter: Dem vierjährigen Adam geht es nach einer Lebertransplantation ausgezeichnet
Lupe zum Vergrößern des Bildes
Glücklich und putzmunter: Dem vierjährigen Adam geht es nach einer Lebertransplantation ausgezeichnet


PKU: Medikament statt Diät

Kinder wie Amelie und Emma sind es, die Prof. Muntau antreiben, sich mit den „Seltenen“ auseinanderzusetzen. „Die Motivation, einer Krankheit auf die Spur zu kommen und ihr erfolgreich zu begegnen, ist angesichts solcher Kinderschicksale riesengroß.“ In ihrer jüngstenerfolgreich abgeschlossenen Studie geht es um die seltene Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie (PKU). Die Patienten müssen eine Emma hat eine angeborene Stoffwechselstörung – dank rechtzeitiger Behandlung jedoch keine Folgeschäden Foto: Michael Wölke Wissen und Forschen 2015 45 strikte Diät einhalten, um genetisch bedingte Abbaustörungen der Aminosäure Phenylalanin aufzufangen. Tun sie es nicht, drohen schwere geistige Behinderungen. Für die Kinder bedeutet das: niemals Pizza, keine Schokolade, nur spezielles Brot, Spezialnudeln, weder Fleisch noch Fisch und jeden Tag einen Liter eines synthetisch produzierten Eiweißes, das furchtbar unangenehm riecht, sodass man es nirgendwo heimlich trinken kann. „Diese Diät schließt Kinder aus dem normalen Leben aus“, weiß Prof. Muntau. „Jede Einladung zum Kindergeburtstag ist für sie schwierig, Klassenfahrten sind fast unmöglich.“

Nie wird sie die Aussage einer 16-jährigen Patientin vergessen, bei der es dank strikter Diät nicht zur geistigen Behinderung gekommen war. „Als ich ihr erklärte, dass sie trotz Krankheit auch Kinder bekommen könne, sagte sie, dass sie unter keinen Umständen schwanger werden wolle, denn eine solche Diät sei niemandem zuzumuten und schon gar nicht dem eigenen Kind“, erinnert sich Prof. Muntau. „Das hat mir damals sehr zu denken gegeben.“ Bereits in München hat Muntau deshalb an der Uniklinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eine Studie begonnen, bei der das fehlende Enzym Phenylalaninhydroxylase medikamentös zugeführt wird. Im Sommer 2015 konnte die Studie erfolgreich abgeschlossen werden; das Medikament ist inzwischen sogar für Neugeborene zugelassen.


Schwerpunkt „Seltene Erkrankungen“

Auch Adam ist ein „Seltener“. Er litt unter einem Enzymdefekt im Harnstoffzyklus. Dieser führte zu einer Hyperammonämie, einem krankhaft erhöhten Ammoniakgehalt im Blut. Im Alter von zwei Tagen landete er mit einem Rettungshubschrauber auf dem Goetheplatz in München vor der LMU. Seine Pupillen waren lichtstarr, die Ärzte hatten ihn beinahe schon aufgegeben. Prof. Muntau vermittelte ihn ans UKE, eine Lebertransplantation rettete ihm schließlich das Leben. Heute ist Adam ein fröhlicher Junge, der nur noch zur Kontrolle regelmäßig ins UKE zurückkehrt.

Kindern wie Amelie, Emma und Adam will Prof. Muntau eine Stimme geben. „Mit dem Bau der neuen Kinderklinik wollen wir fünf seltene Erkrankungen zum Forschungsschwerpunkt erklären“, verspricht sie. „Noch fehlen uns dafür die Mittel. Aber immer, wenn es schwierig wird, denke ich an die Kinder. Eine schönere Motivation gibt es nicht.“

Text: Kerstin Graupner
Fotos: Axel Kirchhof