Plötzlich stand die Welt still
Aliya ist knapp vier Jahre alt, als ihre Eltern im UKE erfahren, dass ihre Tochter an Krebs erkrankt ist. Akute Lymphoblastische Leukämie (ALL), so lautet die Diagnose. Es folgen zwei Jahre Chemotherapie – eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen, Tränen und Lachen. Heute ist Aliya neun Jahre alt und kaum zu bremsen.
So schnell sie kann, schlüpft Aliya in ihre Inliner und klemmt sich den Roller unter den Arm. Heute Nachmittag will sie im Skatepark Rampen fahren und Sprünge üben. „Halt, den Helm nicht vergessen“, ruft ihr Mutter Hülya hinterher. Aliya verengt ihre großen braunen Augen zu kleinen Schlitzen und legt den Kopf schief. „Den brauch’ ich doch gar nicht“, lächelt sie verschmitzt, schnappt sich flink den Helm und ist verschwunden. „Typisch Aliya“, sagt Vater Ferdi. „Sie war schon immer ein sehr aktives Kind mit tausend Ideen im Kopf.“
Umso überraschter sind die Eltern, als ihr damals dreieinhalbjähriger Wirbelwind mit einem Mal aufhört zu wirbeln. Aliya ist häufig krank, hat Fieberinfekte und schläft im Kindergarten regelmäßig ein. Hellhörig werden beide, als ihre Tochter immer wieder über starke Beinschmerzen klagt. „Ich erinnere mich noch genau an einen Stadtparkspaziergang, als Aliya plötzlich nicht mehr weitergehen konnte und ich sie den ganzen Rückweg auf den Schultern trug. Vielleicht starker Muskelkater, versuchte ich mich zu beruhigen“, sagt Ferdi. Doch seine Frau bleibt skeptisch. Als Aliya hohes Fieber bekommt, sucht sie den Kinderarzt auf. Der schickt sie zum Orthopäden. „Es hieß, das sei nur Wachstumsschmerz, ich solle mir nicht so viele Sorgen machen“, erinnert sich die Mutter. Doch die Unruhe hält an und Hülya bleibt hartnäckig, bis der Kinderarzt einen Bluttest macht. „Das Ergebnis erfuhr ich am Telefon“, sagt Hülya. Der Kinderarzt erklärt ihr ruhig, dass er eine ernsthafte Erkrankung nicht ausschließen kann und sie am besten sofort mit ihrer Tochter ins Krankenhaus geht. „In diesem Moment verschwamm alles vor meinen Augen. Unter Tränen packte ich ein paar Sachen für Aliya zusammen und fuhr mit ihr ins UKE.“
Wie im Nebel
An die ersten Tage im Krankenhaus erinnern sich die Eltern nur noch bruchstückhaft. Die vielen Blutabnahmen und Schmerzmittel, die Knochenmarkpunktion in Vollnarkose zur Diagnosestellung, ihre vor Schmerz weinende kleine Tochter. Und Aliya? „Ich weiß noch, dass mein Bein furchtbar gepocht hat, als ob jemand mit einem Hammer darauf schlagen würde. Es ging mir schlimm, einfach nur schlimm“, erzählt sie. Sie kann sich auch erinnern, wie traurig ihre Eltern waren, nachdem sie mit der Ärztin gesprochen hatten. „Als ich das Wort Leukämie hörte, dachte ich, wir verlieren unser Kind“, sagt Hülya und kämpft mit den Tränen. Ihre Welt steht plötzlich still. Doch dann geht alles ganz schnell. Auf einem Bett mit Rollen, wie Aliya schildert, wird sie in den OP-Saal geschoben und erhält dort einen Port. „Das ist so ein rundes, kleines Metallding mit einem Radiergummi oben drauf, nur weicher“, erklärt die Neunjährige fachkundig. Über diesen Venenzugang erhält sie in den Folgemonaten ihre Medikamente zur Chemotherapie. „Wir waren sehr froh über diese Möglichkeit, da Aliya nicht mehr so viel gepiekst wurde und weniger leiden musste“, sagt Ferdi.
Licht und Schatten
Sieben Monate dauert Aliyas Intensivtherapie auf Station K1b, der Krebsstation des Kinder-UKE. Die anschließende Erhaltungstherapie findet zu Hause in Tablettenform statt. Glücklicherweise spricht die damals Vierjährige sofort auf die Medikamente an, sodass ihre Schmerzen im Bein bald nachlassen. Doch es gibt auch Nebenwirkungen. „Wir erklären den Eltern oft vor der Therapie, dass wir ihr Kind krank machen müssen, damit es wieder gesund wird“, sagt Kinderonkologin Dr. Gabriele Escherich. Eine schwierige Aussage, das ist der Ärztin bewusst. „Doch die offene Kommunikation ist wichtig, damit Eltern ihr Kind bestmöglich begleiten und wir mit ihnen im Team arbeiten können“, erläutert sie. Auch die kleine Aliya kämpft mit Übelkeit und Fieber. Ihre Haare werden vorbeugend abrasiert, um sie unter der Therapie nicht büschelweise zu verlieren. „Mama hat mir tolle Tücher gekauft, die ich mir um den Kopf wickeln konnte“ erzählt Aliya. Besonders mag sie das mit den Mickey-Mäusen. Worüber sie sich bis heute wundert: „Vor der Therapie hatte ich ganz glatte Haare. Jetzt sind sie lockig“, sagt sie achselzuckend.
Aliya hat aus ihrer Krebszeit, wie sie ihre Erkrankungsphase selbst nennt, weniger die Schreckensbilder zurückbehalten. Stattdessen berichtet sie von ihrer Lieblingsschwester auf Station, die oft mit ihr spielt, neuen Freunden, einem Dornröschenkleid zum Geburtstag und dem kleinen Holzpferd, mit dem sie über die Flure reitet. Und natürlich vom Weihnachtsmann, der sie höchst persönlich an Heilig Abend auf Station besucht. Ihr Vater lacht, als er sie erzählen hört: „Ja, Aliya war gern unterwegs, auch wenn sie gerade mit dem Tropf verbunden war. Dann liefen wir ihr schiebend hinterher.“ Die Eltern versuchen, stark für ihre Tochter zu sein, ihr den Mut und die Kraft zu geben, die Krankheit zu besiegen. Mutter Hülya weicht ihr höchstens von der Seite, um ihr Leibgericht zu holen. „Pommes aus dem UKE“, schwärmt Aliya. „Das sind die besten Pommes auf der ganzen Welt.“
Wie kommt es, dass Aliya auch viel Positives mit dieser schweren Zeit verbindet? „Gerade jüngeren Kinder fällt es oftmals leichter, die neuen Lebensumstände vorübergehend als neuen Alltag zu akzeptieren, da sie noch sehr anpassungsfähig sind“, weiß Dr. Escherich. Im Teenageralter sieht es anders aus. „Meist wissen die Jugendlichen genau, was sie verpassen. Sie wollen sich gerade vom Elternhaus lösen und geraten durch die Erkrankung erneut in eine Form der Abhängigkeit.“ Eine vage Vorstellung dieser widersprüchlichen Gefühle entsteht beim Durchblättern des Fotobands „Krebs kriegen andere“, wenn man in die Gesichter der darin abgebildeten Kinder blickt. Mehr als ein Jahr besuchte Fotograf Henning Heide im Auftrag der Fördergemeinschaft Kinderkrebs-Zentrum Hamburg e.V. die Station K1b und fing das dortige Geschehen auf sensible Weise mit seiner Kamera ein.
Zurück ins Leben
Obwohl sie noch sehr klein war, als sie erkrankte, hat das Erlebte bei Aliya Spuren hinterlassen. Es sind kleine Details, die sie in manchen Momenten wie ein Flashback in die Vergangenheit zurück katapultieren. Wie neulich in der Schule, als sie sich mit ihrer Klasse in den Kindernachrichten einen Beitrag über einen krebskranken Jungen anschaut. „Da musste ich rausgehen, das wollte ich nicht sehen“, sagt sie und schweigt. Häufiger fragt sie ihre Eltern, warum ausgerechnet sie krank wurde. „Wir sprechen sehr offen mit Aliya über dieses Thema und versuchen, all ihre Fragen zu beantworten“, sagt die Mutter. Auch sie und ihr Mann haben die schwere Erkrankung ihrer Tochter noch nicht verarbeitet. „Sobald Aliya fiebert oder hustet, machen wir uns Sorgen und tasten ihre Lymphknoten ab“, erzählt Ferdi. Lieber fahren sie einmal mehr ins UKE und gehen auf Nummer sicher. Ist die Angst vor einem Rückfall begründet? „Eigentlich nicht, aber vollkommen verständlich“, kommentiert Dr. Escherich. Selbst wenn es nach einer solchen Grenzerfahrung natürlich schwer ist, sollten Eltern versuchen, wieder Vertrauen in die Gesundheit ihres Kindes und in ihr eigenes Bauchgefühl zu finden. Mehr als neun von zehn Kindern mit Leukämien können durch Chemotherapie geheilt werden, Rezidive sind äußerst selten.
Was häufig beobachtet wird, sind Spätfolgen der Therapie. Angefangen bei einer erneuten Krebserkrankung umfassen sie Schäden an Muskulatur und Knochen oder Herzprobleme, wie Herzmuskelschwäche, die schon im frühen Erwachsenenalter auftreten können. „Vorsorge ist Nachsorge lautet unsere Devise“, so Dr. Escherich. Denn viele Folgeschäden können durch einen gesunden Lebensstil oder durch frühzeitiges Wissen über ihre Entstehung rechtzeitig erkannt und effektiv behandelt werden. Um genesene Patient:innen über das Kindesalter hinaus zielgerichtet weiterzubetreuen, bietet das UKE eine speziell eingerichtete Sprechstunde an. „Die internistischen Kolleg:innen dort sind spezialisiert auf typische Begleiterscheinungen nach überstandener Krebserkrankung und beraten Jugendliche und junge Erwachsene auf verschiedenen Ebenen“, erläutert die Kinderonkologin.
Blick nach vorn
Für Aliya ist der 31. Oktober ein ganz besonderes Datum. Nicht nur, weil sie sich so gern an Halloween verkleidet. Vor allem, weil an diesem Tag im Jahr 2022 ihre Krebstherapie endet. „Wir machen immer eine große Pyjama-Grusel-Party mit meinen Freundinnen, Mama backt Harry-Potter-Muffins und es gibt Geschenke.“ Ja, Aliya steht wieder voll im Leben. In der Schule mag sie am liebsten die Fächer Mathe und Musik, hat viele Freundinnen und wurde sogar zur Klassensprecherin gewählt. Die Zeiten, in denen einige Kinder sie wegen ihrer Glatze auslachten, scheinen weit entfernt. Woran sie in ihrer Freizeit den größten Spaß hat? „Am Singen“ sagt sie strahlend. „Das ist meine große Leidenschaft.“ Seit einem Jahr nimmt sie Gesangstunden – und hat dabei ein klares Ziel vor Augen: Wenn sie mal groß ist, möchte sie Opernsängerin werden.