Versorgungsforschung und Public Health
Prof. Dr. Blanche Schwappach-Pignataro, Dekanin der Medizinischen Fakultät und UKE-Vorstandsmitglied, im Gespräch mit leitenden Versorgungsforschern des UKE und mit Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann aus Greifswald. Sie diskutieren die Entwicklung und Bedeutung der Versorgungsforschung in Hamburg und ob das UKE ein Institut für Public Health benötigt.
Prof. Dr. Blanche Schwappach-Pignataro: Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz hat der Uni Greifswald einen Forschungsneubau für 65,6 Millionen Euro bewilligt. Welche Fragestellungen sollen bei Ihnen untersucht werden?
Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann: Wir richten ein interdisziplinäres Zentrum für bevölkerungsbezogene Gesundheitsforschung ein und wollen die zunehmende Häufigkeit von Krankheiten wie Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel untersuchen.
Und ist das nun Public Health oder Versorgungsforschung?
Hoffmann: Der Name ist nicht entscheidend. Wir nennen es in Greifswald Community Medicine. Unter all diesen Begriffen versteht jede:r etwas anderes. Es geht letztendlich um die bevölkerungsbezogene Gesundheitsforschung – von der Grundlagenforschung und Epidemiologie bis hin zur Implementierung neuer und wirksamer Versorgungsformen.
All diese Punkte, zu denen beispielsweise noch Prävention oder Sozialmedizin gehören, stehen im Kontext von Public Health. Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung, an dem auch viele UKE-Kolleg:innen beteiligt sind, bezeichnet Public Health als Klammer, als eine Art Dach, unter dem die anderen Richtungen sich entwickeln können.
Wenn ich unter dieser Prämisse Richtung Hamburg und UKE blicke, bin ich sehr beeindruckt, was hier in den vergangenen Jahren aufgebaut wurde.
Danke für das Lob, Prof. Hoffmann, das freut unsere Wissenschaftler:innen. Können Sie die Entwicklung im UKE kurz skizzieren, Prof. Härter?
Prof. Dr. Dr. Martin Härter: Bereits 2006 haben wir das Center for Health Care Research (CHCR) gegründet, dessen Sprecher die hier anwesenden Kollegen und ich sind. Seitdem hat sich viel getan, inzwischen beschäftigen sich 27 Einrichtungen aus UKE, Uni und Albertinen mit mehr als 240 Wissenschaftler:innen mit dem Thema Versorgungsforschung.
Welche Themen bewegen Sie und Ihre Kolleg:innen maßgeblich?
Härter: Multimorbidität, chronische Erkrankungen, psychische Gesundheit und Patient:innenorientierung sind einige der wichtigsten Stichworte. Wir haben von Anfang an kooperative Forschungsbemühungen angestrengt, uns immer gemeinsam an größeren Forschungsverbünden beteiligt. Die tragen nicht alle Versorgungsforschung oder Public Health im Titel, haben inhaltlich aber sehr viele Berührungspunkte mit der Versorgungsforschung.
Unter die verbindende Klammer Public Health gehört auch die Allgemeinmedizin, Prof. Scherer. Oder wie ist Ihre Sicht auf die Begriffsdiskussion?
Prof. Dr. Martin Scherer: Die Allgemeinmedizin denkt Public Health immer mit. Zwei Beispiele aus dem klinischen Bereich: Wenn wir mit Patient:innen mit Halsschmerzen über eine Antibiotikaverordnung sprechen, haben wir die Resistenzproblematik der Gesellschaft ebenfalls im Blick. Und wenn es allgemein um Schilddrüsenerkrankungen in Jodmangelgebieten geht, betrachten wir auch die individuelle Perspektive der Patient:innen. Unser Auftrag lautet: Schutz des Individuums und der Gesellschaft vor Über-, Unter- und Fehlversorgung.
Wie lässt sich ein solcher Auftrag unter dem Aspekt der Forschung umsetzen?
Scherer: Ziel aller wissenschaftlichen Bemühungen ist es, eine Versorgungs- und Qualitätsverbesserung für gesunde und erkrankte Menschen zu erreichen. Wir wollen Versorgungsprobleme sichtbar machen, die dann Anlass für interventionelle Studien sind, deren Ergebnisse Eingang in die Behandlungsleitlinien finden, die dann zu einer hoffentlich besseren Versorgungsqualität führen – ein echter Qualitätsverbesserungskreislauf.
Für mich hört sich Public Health nach staatlich organisierter Vorsorge und festen Regeln an. Versorgungsforschung dagegen ist ein akademisches Fach, dessen Inhalte erst einmal geklärt werden müssen. Welche Rolle spielt hier die Medizinische Soziologie, Prof. von dem Knesebeck?
Prof. Dr. Olaf von dem Knesebeck: Die Medizinische Soziologie interessiert sich für soziale Einflüsse auf die Gesundheit des Individuums und die Versorgung der Gesellschaft. Von daher ist sie sowohl Bestandteil der Versorgungsforschung als auch von Public Health. Um es konkret zu machen: Die Pandemie hat nochmals unterstrichen, dass viele Krankheiten gehäuft in benachteiligten Stadtteilen oder Bevölkerungsgruppen auftreten, etwa im Hinblick auf Bildung, Einkommen oder die berufliche Position.
Diese Erkenntnis ist in der öffentlichen Diskussion allerdings erst sehr spät wahrgenommen worden.
Scherer: In Politik und Öffentlichkeit hat sich zu lange die Auffassung gehalten, dass die Pandemie ein rein virologisches Thema ist. Sie ist natürlich eines, ohne die Virolog:innen wüssten wir nichts. Aber deren Expertise endet an der Labortür, das muss man so klar sagen. Ins Pandemie- und Kommunikationsmanagement gehören Public Health- und Versorgungsforscher:innen und damit auch Allgemeinmediziner:innen. Sechs von sieben COVID-19-Patient:innen werden in der Allgemeinmedizin behandelt. Diese Perspektive habe ich in den Diskussionen der vergangenen zwei Jahre vermisst.
Hoffmann: Es war zu lange nur die Virologie im Fernsehen! Das liegt natürlich auch an uns. Der Vorwurf, wir Versorgungsforscher:innen reden immer so lange und es ist alles komplex und schwierig, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Wir haben zu selten klare Botschaften!
Von dem Knesebeck: Inhaltlich ist es leider so, dass Versorgungsforschung und Public Health Infektionskrankheiten bislang zu wenig beachtet und sich mehr auf chronische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Leiden oder Krebs konzentriert haben.
Härter: Das sollten wir ändern und haben hierfür in Hamburg und insbesondere im UKE beste Voraussetzungen. Der interdisziplinäre Austausch von Versorgungsforscher:innen mit den Tropenmediziner:innen und Infektionsforscher:innen kann vielfältige Erkenntnisse etwa zur Infektionspsychologie und -soziologie hervorbringen.
Noch einmal weg von der speziellen Corona-Pandemie hin zum Grundsätzlichen: Brauchen wir im UKE neue Strukturen, auf denen Public Health steht?
Von dem Knesebeck: Public Health setzt sich aus vielen Bereichen zusammen: Gesundheitsökonomie, Epidemiologie, Arbeitsmedizin, Suchtforschung, Sexualmedizin, Medizinsoziologie, Allgemeinmedizin, psychische Gesundheit und vieles mehr. All das haben wir im UKE mit eigenen Professuren und Forschungseinrichtungen. Brauchen wir trotzdem noch ein Institut für Public Health? Nein, ich glaube nicht.
Härter: Einverstanden, Professur und Institut benötigen wir nicht. Aber vielleicht können wir auf Dauer unser Dach erweitern. Wir haben mit all den genannten Richtungen eine ‚School of Public Health‘ im UKE, benennen sie aber nicht so. Das könnte eine Überlegung für die Zukunft sein.
Scherer: Unser Haus ist das CHCR, dort haben wir unsere Aktivitäten in Sachen Versorgungsforschung gebündelt. Aber wir machen im UKE längst nicht mehr nur Versorgungsforschung, sondern seit Langem auch ganz viel Public Health. Vielleicht sollten wir das Haus ausbauen und um Public Health erweitern – und damit deutlich sichtbarer werden.
Vielen Dank, meine Herren, das sind interessante Denkanstöße. Wie lautet Ihr Fazit aus der Ferne?
Hoffmann: Interdisziplinarität und Vielfalt sind die großen Stärken des UKE in den Bereichen Versorgungsforschung und Public Health. Das gibt es an anderen Unikliniken nicht, das werden Gutachter:innen bestätigen. Diese Stärken sollten Sie nutzen, sie bieten – in Zeiten, in denen sich Kliniken positioniere nmüssen – gute Chancen für die Profilbildung.
Das Interview dokumentierten Redaktionsleiter Uwe Groenewold und Fotograf Axel Kirchhof