Hauptsache gemeinsam
Zusammen einem Ball hinterherjagen, lernen, lachen und sich austauschen – dieser Normalität von Kindern und Jugendlichen setzte der Lockdown in Deutschland Mitte März innerhalb weniger Tage ein abruptes Ende. Wie stark viele unter der Situation litten und was ihnen in der Krise Halt gab, hat die UKE-Studie „Corona und Psyche“ (COPSY) herausgefunden.
„Und? Kannst du’s jetzt sehen?“ Etwas umständlich und ziemlich stolz hält der neunjährige Hendrik sein selbstgebautes Lego-Raumschiff vor die Handykamera. Dann schaut er wieder auf das Display, wo sein bester Freund Tim freudestrahlend den Daumen emporreckt. Seit sich die beiden im April fast täglich virtuell treffen, ist Hendrik wieder aufgeblüht. „Mit jeder Woche, die der Lockdown und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen dauerten, wurde unser Sohn stiller und in sich gekehrter“, erinnert sich die Mutter. Als der Junge eines Morgens gar nicht mehr aufstehen will, läuten bei den Eltern die Alarmglocken.
Hendrik ist kein Einzelfall, wie die COPSY-Studie zeigt. „Wir stellten fest, dass sich zwei Drittel der
Kinder und Jugendlichen durch die Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen in der Corona-
Krise seelisch belastet fühlten. Vor der Pandemie war es nur etwa ein Drittel gewesen“, sagt Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der Studie und der Forschungsgruppe „Child Public Health“ der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik.
Kindern eine Stimme geben
Zur Erhebung wurden im Mai und Juni dieses Jahres über 1000 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren und mehr als 1500 Eltern online befragt. Im Mittelpunkt standen Themen wie psychische Gesundheit, Lebensqualität und Gesundheitsverhalten sowie konkrete Fragen zu Schule, Familie und Freunden. Um herauszufinden, wie sich die Werte im Vergleich zur Zeit vor Corona verändert haben, verglichen die Forscherinnen und Forscher die aktuellen Werte mit vorher erhobenen Daten bundesweiter Studien. „Unser Ziel war es, Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben, um zu erfahren, wie es ihnen in dieser sozialen und psychischen Ausnahmesituation ergeht und welche Auswirkungen sie auf ihre psychische Gesundheit hat“, erläutert Prof. Ravens-Sieberer.
Jedes vierte Kind mit Anzeichen für Angststörung
Den Ergebnissen zufolge zeigte fast jedes dritte Kind (30 Prozent) ein Risiko für psychische Auffälligkeiten, vorher war es nur jedes fünfte (18 Prozent). Besonders stark nahmen Hyperaktivität und Probleme mit Gleichaltrigen zu. Bei 24 Prozent gab es Anzeichen für eine Angststörung, vor Corona waren es nur 15 Prozent. Die befragten Kinder und Jugendlichen litten auch unter depressiven Symptomen. 58 Prozent erklärten, dass sie sich an einzelnen Tagen antriebslos und niedergeschlagen fühlten. Auch körperlich hinterließ die seelische Belastung Spuren bei den Kindern. Ihre Eltern berichteten, dass diese schneller gereizt seien (54 Prozent), Schlafprobleme hätten (44 Prozent) und häufiger unter Kopf- und Bauchschmerzen litten (40 bzw. 31 Prozent). „Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet. Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat uns doch überrascht“, kommentiert Prof. Ravens-Sieberer die Ergebnisse.
Dort, wo ein gutes Familienklima und ein enger Zusammenhalt bestehen,
kommen die Kinder deutlich besser durch die Krise.
Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, Forschungsdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Auch bei Themen wie Schule, Familie oder Freunde zeigten sich auffällige Veränderungen. Fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen gab an, ihr Verhältnis zu Freunden habe durch die fehlende Nähe gelitten. Auch das Lernen zu Hause nahmen zwei Drittel als anstrengender wahr und berichteten von Stress und Problemen, den schulischen Alltag zu bewältigen. „Unsere Untersuchungen zeigten auch, dass die coronabedingten Maßnahmen bestimmte Gruppen besonders stark belasteten, wie etwa Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund haben“, sagt die Psychologin. Fehlende finanzielle Ressourcen und beengter Wohnraum führten zu einem hohen Risiko für psychische Auffälligkeiten und Konflikte in der Familie. Umso wichtiger sei es bei der im Herbst begonnenen zweiten Welle, dass Jugendämter ihre Hilfsangebote für Familien aufrechterhalten und sie nicht etwa wie im Frühjahr herunterfahren, betont die Studienleiterin.
Was Kinder stark macht
Positive Erkenntnis aus den Befragungen: Kinder haben Ressourcen, sind flexibel und können sich rasch neuen Gegebenheiten anpassen. Ihre Familie kann sie dabei entscheidend unterstützen. „Dort, wo ein gutes Familienklima und ein enger Zusammenhalt bestehen, kommen die Kinder deutlich besser durch die Krise“, sagt Prof. Ravens-Sieberer. Auch digitale Hilfsmittel, um – wie eingangs geschildert – soziale Kontakte mit Freunden aufrechtzuerhalten, begrüßt die Kinder- und Jugendpsychologin.