Mit Yoga zurück ins Leben
„Haben Sie denn eine Patientenverfügung?“ Auf diese Frage ist sie nicht gefasst. Die Lage ist offenbar ernst; es geht um ihr Leben, um ihre Unversehrtheit. Susanne Althoff ist mit einer schweren Hirnblutung ins UKE verlegt worden. Am nächsten Morgen soll sie operiert werden.
Fünf Tage zuvor hat die 51-jährige Yogalehrerin einen ruhigen Samstagabend genossen. Die beiden jüngsten ihrer vier Kinder, die noch bei ihr wohnen, sind unterwegs. Am Abend macht sie einige Yoga-Übungen, den Kopfstand und den Handstand gegen die Wand. Routinen. „Später wurde ich mehrfach danach gefragt, aber ich weiß sicher, dass ich dabei nicht auf den Kopf gefallen bin.“ Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Sie hat eine seltene angeborene Anomalie der Blutgefäße im Gehirn, die arteriovenöse Malformation (AVM). Es handelt sich um eine Art Kurzschlussverbindung von Arterien und Venen. Das Gefäßknäuel kann wachsen, es kann auch aufplatzen.
Als sie an diesem Abend ins Bett gehen will, ist es plötzlich, als würde ihr Kopf explodieren. „Ich habe einen Stern gesehen, groß und grell. Mir wurde dann schwarz vor Augen, und ich musste mich übergeben.“ Übelkeit und Erbrechen halten die Nacht über und den ganzen nächsten Tag an. Ihre beste Freundin, mit der sie abends chattet, ist alarmiert: Sind das nicht die Symptome ihrer Mutter, bevor diese einen Hirnschlag erlitt? Die Freundin ist am frühen Morgen zur Stelle und wählt dann umgehend die 112.
Susanne Althoff wird in die Notfallaufnahme eines nahegelegenen Krankenhauses gebracht, aber nicht als Notfall behandelt. Stattdessen liegt sie viele Stunden im Bett, bevor sie an der Reihe ist und in die Röhre des Computertomographen geschoben wird. Das 3D-Röntgenbild zeigt einen Bluterguss im Gehirn, der Arzt gibt Entwarnung: Sie könne nach Hause gehen. Falls es schlimmer wird, solle sie wiederkommen. „Ich glaube nicht, dass ich das schaffe“, entgegnet Patientin Althoff. Nun wird noch eine MRT-Untersuchung durchgeführt; das Ergebnis erfährt sie nicht, aber sie kommt auf die Intensivstation. An den nächsten Tagen geht es ihr wieder gut, sie wechselt auf die Normalstation, steht auf, bewegt sich und würde am liebsten so schnell wie möglich zurück nach Hause zu Sohn und Tochter. Allerdings spürt sie eine Anomalie: „Wenn ich lag, hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl, als fließe es in meinem Kopf.“
Fistel löst Blutungen aus
Der fünfte Tag in der Klinik startet mit einer extremen Schmerzattacke, „als würde mir ein Messer in den Hinterkopf gerammt“. Die Patientin wird ins UKE verlegt, dort wird eine Angiografie durchgeführt, ein bildgebendes Verfahren, bei dem ein Kontrastmittel in die Arterien gespritzt und gleichzeitig eine Röntgenaufnahme gemacht wird, sodass die Hirngefäße auf einem Bildschirm sichtbar werden: Eine Blutfistel hat sich geöffnet und drei Hirnblutungen ausgelöst. Gleich am nächsten Morgen soll Susanne Althoff in der Neurochirurgie operiert werden. Sie macht sich keine weiteren Gedanken darüber – bis die Pflegefachfrau das Thema Patientenverfügung anspricht. Was will sie mir mit dieser Frage sagen? Muss ich meinen Kindern noch etwas Wichtiges mitteilen, für den Fall, dass die OP schiefgeht?
Sie kann sich selbst beruhigen. „Meine Kinder wissen, dass ich sie lieb habe, so wie sie sind, in ihrer Einzigartigkeit. Ich war im Frieden mit mir.“ Sie schickt ihrem Ex-Mann einen Geburtstagsgruß und informiert ihn: ‚Morgen werde ich operiert. Für den Fall, dass…‘ Sie nennt Verträge, Kontodaten, Dokumente und so weiter.
OP-Narbe vom Hinterkopf bis in den Nacken
Sechs Stunden dauert die OP. Als sie aus der Narkose aufwacht, tastet sie nach dem Verband auf ihrem Kopf, eine Art Turban. Wie es wohl darunter aussieht? Ein rasierter Schädel mit einer dicken Narbe, oder sind ihre schulterlangen Haare noch da? Von der Lösung der Operateure ist Susanne Althoff noch heute begeistert: „Die haben das richtig cool gemacht: Die Operationsnarbe verläuft vom Hinterkopf gerade in den Nacken. Bis auf eineschmale rasierte Schneise ist das volle Deckhaargeblieben.“ Als sie nach der OP wiederauf der Normalstation liegt, testet sie ihre Beweglichkeit: Ein Bein lässt sich nicht durchstrecken.„Ich habe einen halben Tag darangearbeitet, bis es wieder funktionierte.“ Sie umfasst bei ausgestreckten Beinen ihre Zehen und ist erleichtert.
Doch dann wird es schwer: Die Tage nach der OP sind unendlich mühsam. Susanne Althoff hat große Gleichgewichtsprobleme, hält sich kaum auf den Beinen, benötigt den Rollstuhl, später eine Gehhilfe. Augenbewegungen lösen Übelkeit aus, die Handynachrichten der Kinder kann sie nicht lesen, ohne dass ihr schlecht wird. Bei der Visite spricht sie den Arzt auf die Probleme an. „Wir gehen davon aus, dass Sie 80 Prozent Ihres Gleichgewichts zurückgewinnen werden“, sagt er.
„Damit wollte er mir bestimmt eine positive Nachricht vermitteln. Aber 80 Prozent, das war mir viel zu wenig!“ Sie möchte ihr altes Leben zurückhaben, mit viel Bewegung, mit dem geliebten Yoga-Unterricht. Dass für sie alles sehr gut gelaufen war und auch ganz anders hätte kommen können, wird ihr erst so richtig klar, als sie sich in einer Facebook-Gruppe mit anderen Betroffenen austauscht. Manche haben eine schwere Hirnblutung überstanden, nachdem ein Aneurysma, die Aussackung eines Blutgefäßes, gerissen war. „Sie sind deutlich schlechter dran als ich.“
Probleme mit dem Gleichgewicht bleiben
In den folgenden vier Wochen im RehaCentrum Hamburg gewinnt Susanne Althoff bereits einen Großteil ihrer früheren Bewegungsfähigkeit zurück. Und sie lernt, mit den Einbußen zurechtzukommen. Auch heute, mehr als zwei Jahre nach dem lebensbedrohlichen Ereignis, nach intensivem Training in der Physiotherapie und zu Hause, hat sie Probleme mit dem Gleichgewicht. „Ich fange dann an zu wackeln. Das fühlt sich an, als würde man bei Seegang auf einem Schiff laufen. Der Gedanke, dass andere mich für betrunken halten könnten, ist mir sehr unangenehm.“ In Menschenmengen ist sie schnell überfordert. Sie berichtet vom Schulfest ihres Sohnes, als sie fast verzweifelte, weil sie sich den Weg zu einem freien Sitzplatz in der Aula bahnen musste. Dort angekommen, ging auch schon das Theaterstück los, bei dem ihr Sohn mitspielte. Sie brach in Tränen aus. „Das war alles zu viel für mich.“ Eine Mutter, die neben ihr saß, meinte mitfühlend: „Das ist aber auch wirklich so rührend.“
Susanne Althoff übt sich in dem, was sie auch in ihren Yoga-Kursen vermittelt hatte: Geduld zu haben mit sich selbst. Und Hilfe anzunehmen. Seitdem mäht zum Beispielein freundlicher Nachbar den Rasen in ihremKleingarten. Mit den koordinierten – Susanne Althoff sagt kombinierten – Bewegungen wird es nur langsam besser: „Eine Straße ohne Ampel überqueren: links, rechts, links schauen, dann gehen. Das funktioniert noch nicht.“ Im Supermarkt ein Regal mit den Augen absuchen?„Da brauche ich Halt, sonst wird mirschwindelig.“ Ihr Auto hat sie im vergangenen Jahr verkauft, sie braucht es nicht mehr. Und auch auf das geliebte Radfahren wird sie bis auf Weiteres verzichten, denn noch fühlt sie sich viel zu unsicher, wenn ihr Radfahrer:innen oder andere Verkehrsteilnehmende entgegenkommen. Fliegen darf sie, im vergangenen Jahr hat sie Urlaub an ihrem Lieblingsort auf Lanzarote gemacht.
Yoga ist nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Wann immer es möglich ist, sitzt Susanne Althoff im Schneidersitz.Täglich macht sie ihre Übungen. „Wer weiß,wie ich aus dem Stadium mit der Gehhilfe herausgekommen wäre, wenn ich nicht mein Yoga gehabt hätte. Es verleiht mir innere und äußere Balance, ist Kraftquelle und Ruhepol. Auf dieses Tool kann ich immer zurückgreifen. Yoga ist für mich da, wie ein guter Freund.“ Ihren Kindern musste sie allerdings versprechen, nie wieder einen Kopf- oder Handstand zu machen.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Schon wenige Wochen nach der Operation hatte sich Susanne Althoff geschmeidig in die Yoga-Brücke gebogen, ein Foto postete sie auf Instagram. Früher hatte sie Power-Yoga unterrichtet, vor allem im Hochschulsport, und sich später dem sanfteren Yin Yoga zugewandt. Heute gibt sie keinen Unterricht mehr, „ich brauche meine ganze Kraft für den Alltag“. Aber sie plant bereits neu: Als Schülerin hatte sie für den Lokalteil einer Tageszeitung geschrieben, während des Studiums in Berlin für Magazine gearbeitet und an einem Studienführer mitgewirkt. „Schreiben hat mir immer großen Spaß gemacht, ist dann aber in Vergessenheit geraten. Es könnte jetzt eine gute Alternative zum Yoga-Unterricht werden.“
Susanne Althoff hadert nicht mit ihrem Schicksal, auch wenn sie vielleicht Gründe hätte, da doch so viele Tage verstrichen, bevor ihre Hirnblutung erkannt wurde. „Andererseits weiß ich, dass ich nirgends so gut aufgehoben war wie im UKE. Besser hätte es nicht laufen können: Alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Und die Aussicht auf 80 Prozent Gleichgewicht, von denen der Arzt vor zwei Jahren sprach: Hat sich da etwas getan? „Auf jeden Fall. Vielleicht bleiben es auf Dauer ‚nur‘ 80 Prozent, aber die kann ich immer effektiver nutzen.“