Pharmakologische Trickkiste
Forschung muss nicht immer etwas Neues erfinden, um erfolgreich zu sein. Kreativität und der Mut, Altes in Frage zu stellen und scheinbar Unvereinbares miteinander zu verbinden, schaffen das mitunter auch.
Text: Sandra Wilsdorf, Fotos: Axel Kirchhof
Bei der Autoimmunen Hepatitis (AIH) greift das eigene Immunsystem Leberzellen an und sorgt so für eine Entzündung der Leber, eine Hepatitis. Müdigkeit, Gelenkschmerzen, unspezifische Bauchbeschwerden gehören zu den häufigsten Symptomen. Unbehandelt kann die AIH zur Leberzirrhose führen, die nicht selten tödlich verläuft. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Krankheit kann in jedem Alter auftreten, ihre Ursache ist unklar. AIH verläuft oft unauffällig und in Schüben. Ist die Diagnose endlich klar, „haben rund 25 Prozent der Betroffenen bereits eine Zirrhose“, sagt Dr. Johannes Hartl, Oberarzt in der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik des UKE. Anders als früher angenommen, könne man damit zwar alt werden, „aber man muss sie entsprechend behandeln“, erklärt sein Kollege Dr. Jan Philipp Weltzsch.
Dabei ist die Standardtherapie seit Jahrzehnten gleich: Mit Immunsuppressiva – meist Azathioprin – wird das Immunsystem so unterdrückt, dass es die eigenen Leberzellen nicht mehr angreift. Gegen die Entzündung gibt es zusätzlich Cortison, oft sogar dauerhaft – mit Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Diabetes und Osteoporose. „Mit dieser Therapie gelingt allerdings nur bei 50 bis 70 Prozent der Patient:innen eine Remission, also dass die Leberwerte sich nachhaltig normalisieren“, so Hartl. Bei den anderen „schwelt die Entzündung vor sich hin und sorgt langfristig für eine weitere Vernarbung der Leber“. Eine „unbefriedigende Situation“, urteilt der Arzt und Wissenschaftler.
Suboptimale Dosierung seit Jahrzehnten
Hartl, Weltzsch und Dr. Moritz Waldmann aus dem Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin fragten sich deshalb: Warum schlägt die Behandlung bei vielen Patient:innen an und bei anderen nicht? Im Labor haben sie die Abbauprodukte des Azathioprins – sogenannte aktive Metabolite – genauer unter die Lupe genommen. Dabei fanden sie bei einigen Patient:innen eine hohe Konzentration des „guten“ Metaboliten, der für die erwünschte Wirkung des Medikaments verantwortlich ist. Andere Patient:innen hingegen hatten einen hohen Spiegel des „schlechten“ Metaboliten, der die Nebenwirkungen verursacht. Dabei war die Dosierung des Azathioprins bei allen Patient:innen sehr ähnlich, nämlich ein bis zwei Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. „Menschen verstoffwechseln das Medikament offenbar sehr individuell“, schlussfolgert Hartl. Die seit rund 30 Jahren praktizierte gewichtsabhängige Dosierung sei also „suboptimal, eigentlich falsch“.
Suche nach einem neuen Weg
Aber wie findet man nun für alle Patient:innen die individuell wirksame Dosis? Auch diese Suche führte das UKE-Team ins Labor: War der Spiegel des erwünschten Metaboliten zu niedrig, wurde die Azathioprin-Dosis erhöht. „Bei einigen Patient:innen stieg dabei jedoch der Spiegel des unerwünschten Metaboliten viermal stärker an als der des erwünschten“, erklärt Hartl. Und zwar genau bei den Erkrankten, bei denen es besonders schwierig war, normale Leber- und niedrigere Entzündungswerte zu erreichen. Für diese Patient:innen probierten die Forschenden aus, was Weltzsch einen „Griff in die pharmakologische Trickkiste“ nennt: Sie erhielten zusätzlich Allopurinol, ein Medikament, mit dem üblicherweise Gicht behandelt wird und das eigentlich nicht zusammen mit Azathioprin verordnet wird, weil es den Stoffwechsel so durcheinander bringt, dass sich die Metabolite umkehren.
„Aber Klinikleiter Prof. Dr. Ansgar Lohse hatte auf einem Kongress in Südamerika gehört, dass Pädiater diesen Effekt bei der Behandlung von Kindern mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gezielt einsetzen“, erzählt Weltzsch. Diese Fährte nahmen die Forschenden aus dem UKE auf: Würde bei Patient:innen, bei denen eine höhere Dosis Azathioprin zu mehr unerwünschten als erwünschten Metaboliten führt, dieses Verhältnis umkehren, wenn sie zusätzlich das Gichtmittel einnähmen?
Die Erfahrungen in der Klinik waren erstaunlich: „Bei allen Patient:innen hat sich das Verhältnis der Metaboliten umgekehrt und fast alle sind in Remission gekommen“, so Weltzsch. Selbst Patient:innen mit jahrelang schlechten Leberwerten, die dauerhaft hohe Dosen von Immunsuppressiva und Cortison eingenommen hatten, konnte geholfen werden. Das Cortison konnte reduziert werden, die Lebervernarbung ging zurück. „Bei vielen Patient:innen, bei denen wir immer eine besonders aggressive Form der autoimmunen Hepatitis angenommen hatten, wissen wir jetzt, dass es nicht die Krankheit selber war, sondern die Metabolisierung des Medikaments.“
Die Forschenden haben ihre Ergebnisse in Fachmagazinen veröffentlicht und passen die Medikation nun je nach Krankheitsaktivität und Verstoffwechselung individuell an. „So erreichen wir maximale Wirkung bei möglichst wenig Nebenwirkungen“, sagt Dr. Hartl. Inzwischen beschäftigen sich auch die medizinischen Fachgesellschaften mit dem neuen Ansatz. Die Hoffnung der UKE-Forschenden: Dass die individualisierte Kombinationstherapie in die Leitlinien aufgenommen wird und künftig möglichst vielen Patient:innen hilft.
Seltene Lebererkrankungen
Das UKE ist Koordinator des Europäischen Referenznetzwerks seltenerLebererkrankungen (ERN Rare-Liver) und bietet mit dem „YAEL-Centrum für autoimmune Leber- und Gallenwegserkrankungen“ eine Ambulanz für Autoimmune Lebererkrankungen , in der jährlich rund 1000 Patient:innen behandelt werden.