„Ich möchte mit meiner Krankheit leben und nicht gegen sie“
Nicole Sell hat eine seltene genetische Form der Osteoporose. Es dauerte unfassbare 19 Jahre und 20 Knochenbrüche bis zur Diagnose. Inzwischen hat sie sich mit der Krankheit versöhnt. Die Behandlung im UKE hat ihr Leben verändert.
Text: Sandra Wilsdorf, Fotos: Eva Hecht, Film: Martin Steimann
Ihren ersten Knochenbruch hatte Nicole Sell, da war sie gerade sieben Tage alt. Ein Unfall mit dem Kinderwagen, in dem sie lag, hatte einen Schädelbasisbruch zur Folge. Dieser erste Bruch war zwar dramatisch, aber kein Grund anzunehmen, dass mit ihren Knochen etwas nicht stimmte. Dass sie sich in den folgenden Jahren immer wieder etwas brach, gehörte zum Familienalltag. Arme, Handgelenke, Finger, das Schlüsselbein: „Irgendwas war immer“, erinnert sich Nicole Sell. Sie war ein wildes Kind „mit Hummeln im Mors“, wie ihre Mutter immer gesagt hat. Und weil die Familie aus beruflichen Gründen oft umzog, gab es keinen Arzt und keine Ärztin, die sich über die häufigen Brüche hätten wundern können.
Spätestens mit 30 im Rollstuhl
Und so dauerte es 19 Jahre und etwa 20 Knochenbrüche, bis ein Arzt aufhorchte, weil Nicole Sell die von ihm gerade diagnostizierte Fraktur lapidar mit „Ach, schon wieder“ quittierte. Ob das denn schon häufiger passiert sei, wollte er wissen und schlug eine Knochendichtemessung vor. „Danach hat er mir gesagt, dass ich Osteoporose habe und spätestens mit 30 im Rollstuhl sitzen würde“, erinnert sich Nicole Sell. Eine Botschaft, die sie irgendwie erschütterte, die ihr aber so irreal schien, dass sie sie tief in sich verstaute. Zu dem Arzt ist sie nie wieder gegangen. Wenn sie sich in den folgenden Jahren immer mal wieder etwas brach, sagte sie in der Praxis oder Klinik zwar „Ich habe Osteoporose“, aber die Behandler:innen glaubten das wohl ebenso wenig wie sie selbst. In Arztberichten las sie später: „Die Patientin behauptet, Osteoporose zu haben.“ Und auch als Nicole Sell Mutter wurde und ihre Tochter Raphaela sich ebenfalls häufig Knochen brach – „kein Weihnachtsfoto ohne Gips“ –, dachte sie zwar, „dass sie wohl das Gleiche hat wie ich“, aber nicht, dass man dagegen etwas tun könnte.
Das änderte sich vor rund sechs Jahren: Damals zog sich die heute 31-jährige Raphaela bei einem eigentlich banalen Rangeln im Garten einen schweren Beinbruch zu. Der behandelnde Orthopäde stellte bei beiden Frauen tatsächlich Osteoporose fest und empfahl ihnen einen Besuch in der Ambulanz des Instituts für Osteologie und Biomechanik am UKE. „Das hat unser Leben total verändert“, sagt Nicole Sell. Mutter und Tochter wissen inzwischen, dass sie unter einer sehr seltenen genetischen Form der Osteoporose leiden, von der auch schon Nicole Sells inzwischen verstorbene Mutter betroffen war. Zum ersten Mal fühle sie sich beim Arztbesuch ernst genommen, ohne viel erklären zu müssen: „Wir werden regelmäßig untersucht und bekommen Medikamente, die tatsächlich helfen“. Nicole Sell freut sich, dass der Knochenabbau seitdem nicht nur gestoppt ist, sondern es sogar einen leichten Aufbau gegeben hat.Dass viele der Behandelnden die Diagnose Osteoporose ebenso wenig glaubten wie sie selbst, liegt vielleicht auch an der Lebensfreude und Energie, die Nicole Sell versprüht. Sie ist inzwischen 51, und der Arzt, der sie mit 30 im Rollstuhl sah, hat sich auf wunderbare Weise geirrt. Die Timmendorferin, die von sich sagt: „Ich gehöre ans Meer“, trägt stattdessen fast jeden Tag – sommers wie winters – ihr Standup-Paddling-Board über die Straße zum Strand und paddelt auf der Ostsee: „Ich liebe das!“
„Verträumtes Projekt“ ist erfolgreich
Elf Jahre hatte sie als Assistentin der Geschäftsführung eines bekannten schleswigholsteinischen Unternehmens gearbeitet. Als sie dort ihren jetzigen Mann Bernd (64) kennenlernte und der die Idee hatte, eine Saucen-Manufaktur zu eröffnen, war sie begeistert – und gründete mit ihm zusammen ein eigenes Unternehmen. Was beide sich als „verträumtes gemeinsames Projekt“ vorgestellt hatten, wurde allerdings schnell so erfolgreich, dass es in harte Arbeit ausartete: Ein bekannter Hamburger Gastronom wollte die Saucen auf seine Burger, eine Supermarktkette für ihr Sortiment. Und so standen Nicole Sell und ihr Mann Tag und Nacht an riesigen Töpfen, schälten bis zu 700 Gurken am Tag und arbeiteten bis zur Erschöpfung. „Daraufhin ging es mir körperlich mitunter so schlecht, dass ich mich kaum bewegen konnte.“ In diese Zeit fällt auch der vorerst letzte von inzwischen insgesamt 36 Knochenbrüchen: Beim Verrücken eines Tisches knickte Nicole Sell 2020 um und wusste gleich: „Der Fuß ist durch“. War er dann auch. Aber deshalb das geplante zweisame Wochenende in Berlin absagen? Auf keinen Fall. Sie verschob die anstehende Operation und ließ sich von ihrem Mann Bernd im Rollstuhl durch die Hauptstadt schieben. „Nur das Kopfsteinpflaster war hart für ihn“, sagt sie lachend. An den Tagen nach der OP las sie unter anderem ein Buch über moderne Fleischverarbeitung und teilte ihrem für das Kochen im Haus zuständigen Mann mit: „Schatz, ich esse nie wieder Fleisch.“ Der sah seinen Erfindergeist herausgefordert und entwickelte einen veganen Fleischersatz auf Seitan-Basis. Eine Trockenmischung in drei Geschmacksrichtungen, individuell dosier- und lange haltbar. Die Sells bewarben sich bei der Gründershow „Die Höhle der Löwen“ und gewannen einen Investor. Inzwischen haben sie ihr Unternehmen verkauft und arbeiten wieder als Angestellte. „Wir sind froh, dass wir dieses Abenteuer gewagt haben.“ Und sie planen schon die nächste, gänzlich andere Herausforderung: „Ich möchte auf die Zugspitze wandern.“
„Die Krankheit gehört zu mir“
Das alles klingt nach einem Leben ohne große Einschränkungen. Und wer Nicole Sell erlebt, würde tatsächlich nicht glauben, dass sie eine schwere chronische Krankheit hat. Doch allein die Kraft positiver Gedanken kann nicht verhindern, dass sie schon fünf Zentimeter kleiner geworden ist, weil ihre Wirbel ineinander stauchen, dass sie an manchen Tagen extrem starke Rückenschmerzen hat und eine Orthese tragen muss, und dass sie im Sommer immer wieder auf ihre Arme angesprochen wird, die von den vielen Brüchen ganz verdreht aussehen. Nicole Sell sagt: „Natürlich ist die Krankheit da. Sie bringt Einschränkungen und Schmerzen mit sich. Aber sie gehört zu mir, und ich möchte gut mit ihr umgehen.“ Seitdem Nicole Sell sich mit ihrer Osteoporose auseinandersetzt, hat sie sich Stück für Stück mit ihr versöhnt: „Ich möchte mit dieser Krankheit leben und nicht gegen sie.“Heute ist sie achtsamer mit ihrem Körper. Früher wollte sie unbedingt Fallschirmspringen und träumte von einer Ballonfahrt. Auch Kitesurfen hat sie ausprobiert und dabei „unfassbar viel Spaß gehabt“, sich aber so heftig am Fuß verletzt, dass sie mit ihrer Krankheit verhandelt hat: „Das ist nichts für mich.“ Und so kam sie zum Stand-up-Paddling: „Es ging um die Frage: Was macht mir Freude und ist gleichzeitig gut für mich?“ Auf dem Board steht sie aufrecht, bewegt alle Muskeln, „und wenn ich ins Wasser falle, passiert mir nichts.“ Ihr Motto: „Wenn ich eine Sache nicht machen kann, darf ich mir trotzdem nicht meine Freude und die Neugierde auf andere Dinge nehmen lassen. Es ist so wichtig, immer in Bewegung zu bleiben.“