Warum gehen wir zu Ärzt:innen?

Manche Menschen gehen häufig und wegen Kleinigkeiten zu Ärzt:innen, während andere seit Jahren keine Praxis mehr von innen gesehen haben. Welche Faktoren beeinflussen die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen? Das eigene Wohlbefinden ist hierfür nicht unbedingt ausschlaggebend, weiß Prof. Dr. André Hajek vom Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung.


„Mir war nicht aussagekräftig genug, was viele Studien wieder und wieder zeigen: Wenn Menschen chronische Krankheiten haben oder sich schlecht fühlen, gehen sie relativ häufig zur:m Ärzt:in“, sagt der Statistikexperte, der im UKE die Professur für Interdisziplinäre Versorgungsepidemiologie inne hat. Also hat er in Kooperation mit Institutsdirektor Prof. Dr. Hans-Helmut König Faktoren beleuchtet, die im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen weniger häufig betrachtet werden – aber vielleicht eine große Rolle spielen: Neben klassischen Größen wie Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Art der Krankenversicherung auch psychologische Komponenten der Patient:innen wie Lebenszufriedenheit, Persönlichkeit, Optimismus oder Pessimismus und spirituelle Überzeugungen. Die so gewonnenen Erkenntnisse könnten helfen, Kosten im Gesundheitssystem zu reduzieren. „Das ist unser übergeordnetes Ziel: den Menschen zu helfen, Gesundheitsleistungen auf eine vernünftige Art zu nutzen und unnötige Behandlungen zu vermeiden“, so Hajek. „Es gibt kaum ein Land, in dem die Zahl der Haus- und Fachärzt:innenbesuche so hoch ist wie bei uns.“

Detailblick in Datenbanken

Um Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Einflussfaktoren und der Bereitschaft zum Ärzt:innenbesuch entdecken zu können, analysieren Hajek und sein Team große Datenbanken. „Wir greifen auf Kohortenstudien und Haushaltspanels zurück. Das sind große repräsentative Befragungen der deutschen Bevölkerung.“ Genutzt werden beispielsweise Daten vom Deutschen Zentrum für Altersforschung oder dem „Sozio-oekonomischen Panel“ (SOEP), bei dem seit 1984 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Privathaushalte in Deutschland jährlich befragt werden.

Überraschende Zusammenhänge

Die Expedition in die digitalen Archive der Republik fördert interessante Funde zutage: „Wenn Leute anfangen, sich ehrenamtlich zu engagieren, gehen sie eher zur:m Fachärzt:in“, hat Hajek herausgefunden. Vermutet hätte er eher das Gegenteil. „Aber vielleicht sind diese Besuche auch Zeichen für ein größeres Gesundheitsbewusstsein und regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen? Auch Personen, die glauben, dass Vieles von Zufall und Glück abhängt, gehen ebenfalls häufiger zu Ärzt:innen. Das hätten wir so zunächst nicht gedacht.“

Andere Ergebnisse sind weit weniger überraschend. Ein wichtiger Faktor bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist die Persönlichkeitsstruktur: Der eine holt sich schnell Hilfe bei Problemen,der andere doktert zunächst lieber selbst herum. Vor allem ein Anstieg des Neurotizismusgrades (emotionale Labilität) und eine Minderung der Gewissenhaftigkeit kann die Zahl der Praxisbesuche erhöhen. Auch nutzen gewissenhafte Personen tendenziell eher präventive Angebote wie Check-ups oder Krebsscreenings. Um dem Problem der Kausalität auf den Grund zu gehen, verwendet Hajek häufig komplexe sogenannte panelökonometrische Verfahren zur Analyse der Längsschnittstudien, in denen Personen über viele Jahre wiederholt befragt werden. So werden mögliche Verzerrungen vermieden.

Während der Corona-Pandemie haben die Wissenschaftler:innen in Kooperation mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ermittelt, dass von März bis Juli 2020 mehr als vier von zehn Personen Check-ups, Krebsscreenings und Zahnärzt:innenbesuche aufgeschoben haben. Dies gilt vor allem für Jüngere und für Menschen mit einem möglicherweise schweren Verlauf von COVID-19.

Text: Arnd Petry
Foto: Axel Heimken