Die Pest als Tropenkrankheit
Als sich das Coronavirus in den ersten Wochen in China ausbreitete, zeigten westliche Medien zunächst wenig Interesse an der neuartigen Lungenkrankheit. Covid-19 schien – wie schon die SARS-Epidemie 2003 – nur Asien zu betreffen und stellte höchstens für Personen, die nach Asien reisten, eine Gefahr dar. In ähnlicher Weise blickten deutsche Mediziner zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf sogenannte „Tropenkrankheiten“. Dazu zählten sie mittlerweile auch die Pest – eine Infektionskrankheit, die noch im 14. Jahrhundert in Europa Millionen Opfer gezählt hatte.
Die Moulagensammlung des Medizinhistorischen Museums umfasst zahlreiche Darstellungen von Krankheiten, die hierzulande der Vergangenheit angehören. Mit Ausnahme der Pocken, die inzwischen als ausgerottet gelten, stellen viele der Erkrankungen in weiten Teilen der Welt noch große Probleme dar. Der Blick auf diese Krankheiten verband sich auch mit einer kolonialen Sicht auf die Erkrankten. Das galt – wie die hier abgebildete Moulage zeigt – auch für die Pest, die geradezu sinnbildlich für die Seuchen vergangener Tage steht. Eine Wachsmoulage aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigt ihre typischen Symptome: die Furunkel, auch als „Pestbeulen“ bezeichnet.
Der Begriff Pest (vom lateinischen „pestis“) bedeutet „Seuche“ oder „Epidemie“ und wird daher auch oft im übertragenen Sinn verwendet. Sie ist eine der ältesten bekannten Seuchen und obwohl wir, wenn wir von der Pest sprechen, meist die Pestepidemien des Mittelalters und der frühen Neuzeit meinen, gab es im Laufe der Menschheitsgeschichte wohl mehr Pestheimsuchungen als allgemein bekannt ist. Eine erste große europäische Pestepidemie vor Ausbruch des „Schwarzen Todes“ – wie die Pest auch bezeichnet wurde – im 14. Jahrhundert war laut neuer Erkenntnisse die Justinianische Pest zurzeit Kaiser Justinians im 6. Jahrhundert n. Chr. Beulenpest gab es also sehr viel früher als gemeinhin angenommen wurde.
Am deutlichsten in das europäische Gedächtnis eingeschrieben hat sich die große Epidemie zwischen 1347 und 1353. In vielen europäischen Orten erinnern heute sogenannte Pestsäulen an die zahlreichen Verstorbenen. Zuverlässige Opferzahlen gibt es nicht, Schätzungen schwanken zwischen 20 und 50 Millionen Toten. Mehr als ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung fiel vermutlich der Seuche oder ihren Folgen, wie z.B. Unterernährung, zum Opfer.
Lange blieb unklar, ob es sich bei den Krankheitsausbrüchen um denselben Erreger gehandelt hatte. Die beschriebenen Symptome jedenfalls glichen sich: Die Menschen bekamen Fieber, merkwürdige Beulen am ganzen Körper, und kurz darauf starben sie – einer nach dem anderen. Pestkranke wurden in ihren Häusern eingemauert, lebendig begraben, und die Städte versanken im Chaos. Eine wirksame Therapie gab es nicht, auch die Ansteckungswege ließen sich ohne Kenntnis des Erregers nicht nachvollziehen. Erst im 17. Jahrhundert setzten sich die Absonderung von Kranken und die Quarantäne als allgemein akzeptierte Maßnahmen durch.
Erst 2011 konnte mit neuen Forschungsmethoden bei Pestopfern aus dem Mittelalter das bis heute verbreitete Bakterium „Yersinia pestis“ festgestellt werden. Der Erreger wurde und wird in der Regel durch Flöhe übertragen. An den Bissstellen der Tiere entwickeln sich in der Folge die charakteristischen Beulen, die auch unsere Moulage zeigt. Eher selten wird das Bakterium durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen. In diesen Fällen befällt die Krankheit vor allem die Lunge. Der rasante Verlauf und die hohe Ansteckungsraten der Lungenpest sind besonders gefürchtet. Bei den Epidemien des Mittelalters und der frühen Neuzeit spielten vor allem Ratten als Träger der Flöhe eine wichtige Rolle für die Verbreitung der Seuche. Demzufolge dürfte vor allem die Verbesserung der städtischen Hygiene auch ihre Eindämmung begünstigt haben.
Die Datierung unserer Pestmoulage auf das frühe 20. Jahrhundert zeigt jedoch, dass die Krankheit auch später noch eine Rolle spielte. Ihrer zeitgenössischen Beschriftung zufolge gehörte sie ursprünglich zur Sammlung des Hamburger Institutes für Schiffs- und Tropenkrankheiten – dem heutigen Bernard-Nocht-Institut. Das Tropeninstitut verfügte ab 1914 nicht nur über eine vielfältige Lehr- und Forschungssammlung, sondern öffnete auch ein für Laien zugängliches „Museum“ der Tropenhygiene. Von der einstmals stolzen Objektsammlung blieben jedoch nur noch einige wenige Moulagen übrig, wie etwa die oben gezeigte, eine von fünf Moulagen von Tropenkrankheiten, die sich heute bei uns im Museum befinden.
Seit seiner Gründung im Jahr 1900 war das Institut mit der Kolonialpolitik verknüpft. Der Verlust der Kolonialgebiete nach dem Ersten Weltkrieg versetzte der deutschen Tropenmedizin einen herben Schlag. Repräsentative Objektsammlungen spielten in der Zwischenkriegszeit daher eine wichtige Rolle, nicht nur als Lehr- und Forschungsmaterial. In materieller Form vertraten sie das einzelne Institut und die Fachdisziplin als solche. Dass für die Tropenmedizin gerade in Hamburg ein wesentlicher Anteil an medizinischer Forschung investiert wurde, verwundert darüber hinaus nicht. Hamburg musste sich als Hafenstadt schon früh mit den Folgen von „Fernreisen“ beschäftigen. Nach der Cholera-Epidemie 1892 wurde jedes ankommende Schiff auf gefährliche Krankheiten untersucht. Matrosen, die sich in tropischen Gebieten angesteckt hatten, wurden im Institut behandelt.
Dass es sich bei der als Wachsmoulage abgebildeten Person um ein Besatzungsmitglied handelt, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Zwar bleibt die Identität der Patientin unbekannt. Zwei weitere Hinweise auf dem Etikett führen ins Breisgau: Angefertigt wurde die Moulage nämlich von Otto Vogelbacher, der als freiberuflicher Wachsmodelleur in Freiburg tätig war. Dort arbeitete er vor allem für die Universitäts-Hautklinik, aber auch für andere Institute und Kliniken. So ist eine weitere von ihm angefertigte Pest-Moulage aus dem ehemaligen Bestand des Freiburger Universitäts-Instituts für Hygiene erhalten.
Eben jenes war 1897 von Max Schottelius (1849-1919) gegründet worden, dessen Name ebenfalls auf dem Etikett zu finden ist. Der Pathologe und Hygieniker hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere mit bakteriellen Infektionskrankheiten beschäftigt, zu denen auch die Pest gehörte. Es liegt nahe, dass die Wachsnachbildung im Zusammenhang mit der dritten Pest-Pandemie angefertigt wurde, die um 1900 vor allem in Asien wütete. In welcher Beziehung Schottelius zum Hamburger Tropeninstitut stand, bleibt jedoch unklar, ebenso wie der Weg der Moulage in die Hamburger Sammlung, wo sie 1943 die Zerstörung des Tropeninstituts überstand. Offenbar hatte die Moulage nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis zu dessen Schließung im nahegelegenen Hafenkrankenhaus als Anschauungsobjekt gedient, bevor sie als private Spende schließlich ins Museum gelangte.
Autor*innen: Henrik Eßler/Edith Ghetta