Kein Grund zur Entwarnung
Die Infektionszahlen stagnieren bundesweit auf hohem Niveau, aber die Situation auf den Intensivstationen entspannt sich nicht. Noch immer steigt die Zahl der COVID-19-Intensivpatienten und -Todesfälle in Hamburg und Umgebung, wenn auch langsamer als vorher. „Ich hätte mir mehr erhofft vom Teillockdown“, sagt Prof. Dr. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin.
Prof. Kluge ist an diesem Abend Ende November live im Vorabendprogramm des NDR-Fernsehens zugeschaltet. Er erklärt ruhig und anschaulich, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt, welche Herausforderungen damit verbunden sind und welche Perspektiven sich bieten. Der Experte ist in Corona-Zeiten ein begehrter Gesprächspartner der Medien. Sein Arbeitsalltag ist auch ohne Interviews in Fernsehen, Radio oder Zeitungen randvoll: mit ärztlichen, organisatorischen, strategischen, Führungs- und Verbandsaufgaben und mit umfangreicher Forschungstätigkeit. Prof. Kluge ist an zahlreichen Studien zu Wirkweise und Zerstörungskraft von SARS-CoV-2 und zu den effektiven Gegenmaßnahmen beteiligt. Die Zeit für Interviews nimmt er sich dennoch: „Es ist mir wichtig mitzuhelfen, die Bevölkerung über den aktuellen Stand in Sachen Corona zu informieren und dabei auch die immensen Belastungen für Ärzteschaft und Pflegpersonal deutlich zu machen.“ Dies könne zu einem stärkeren Bewusstsein für die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen wie Kontaktreduzierung, Maskenpflicht und Abstandsgebot beitragen.
Der Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie äußert sich skeptisch zu den Regellockerungen rund um das Weihnachtsfest. Zugleich zeigt er Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen in Hamburg und Umgebung. „Alle sind erschöpft, da braucht man ein kleines Licht am Horizont.“ Das Weihnachtsfest und die Aussicht auf eine Impfung seien Lichtblicke in dieser herausfordernden Zeit.
Seit dem rasanten Wiederanstieg der Infektionen im Oktober und November ist auch die Zahl der Intensivpatienten wieder gestiegen – und mit zwei bis vier Wochen Verzögerung die Zahl der Todesfälle. Wie in der ersten Corona-Welle von März bis Mai sind es erneut ältere Menschen, die besonders gefährdet sind, schwere Infektionsverläufe zu entwickeln. Das spiegelt sich auch in den Zahlen an einem Tag Ende November im UKE wider: Das Gros der COVID-19-Patienten, die an diesem Tag stationär behandelt wurden, war 50 Jahre oder älter. Mehr als die Hälfte von ihnen musste auf der Intensivstation versorgt werden.
An Intensivbetten fehle es in Hamburg nicht, „das Problem ist der Mangel an Pflegepersonal“, betont Prof. Kluge. Und der lasse sich nicht so leicht kompensieren: Qualifizierte Pflegerinnen und Pfleger benötigen eine mehrjährige Ausbildung. „Wir brauchen unbedingt langfristige Strategien, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen.“ Im UKE hatte man sich frühzeitig auf den erhöhten Personalbedarf für die Versorgung von COVID-19-Intensivpatienten vorbereitet: Mehr als 350 Kolleginnen und Kollegen, auch aus anderen Bereichen des UKE und anderen Kliniken, waren vor und während der ersten Infektionswelle für einen Einsatz auf den COVID-19-Stationen geschult und in der Handhabung der Beatmungsgeräte trainiert worden. „Wir können immer wieder nur all jenen danken, die in den Krankenhäusern, Praxen und Gesundheitsämtern ihre Arbeit machen – hoch professionell und mit Riesenengagement“, sagt Prof. Kluge.
In den nächsten Wochen dürfte für die Bevölkerung erstmals ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung stehen. Bis dahin muss die Infrastruktur für Massenimpfungen aufgebaut sein. Für Hamburg wird zurzeit ein zentrales Impfzentrum in den Messehallen eingerichtet, in dem bis zu 7000 Impfungen pro Tag verabreicht werden sollen. Laut Sozialbehörde könnte der Impfbetrieb schon Mitte Dezember starten. „Eine tolle Nachricht“, findet Prof. Kluge. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht.“ Von Entwarnung kann indes keine Rede sein: „Selbst wenn täglich 7000 Menschen geimpft werden, dauert es sehr lange, bis ein relevanter Teil der Hamburger Bevölkerung durchgeimpft ist.“ Bis dahin helfe nur eins: „Wir müssen uns weiterhin disziplinieren.“