Jeden Tag neu an sich glauben

Der Schlaganfall kam nachts, im Schlaf. Als Dorothea Sielicki aufwachte, war sie halbseitig gelähmt. Aufgeben? Das kam nicht in Frage. Mit unglaublicher Energie holte sie sich ihren Alltag zurück und mit Hilfe einer spezialisierten Behandlung, der sogenannten Forced-Use-Therapie, lernte sie sogar, wieder selber Auto zu fahren.

Text: Silvia Dahlkamp | Fotos: Eva Hecht | Film: Martin Steimann

Ihr Mann steht im Laden
Frank Rudolf hat die Symptome seiner Frau richtig gedeutet

Der schlimmste Moment seines Lebens. Heute sagt Frank Rudolf, 68: „Rückblickend war er wohl mein glücklichster. Denn hätte ich mich in der Nacht einfach umgedreht und weitergeschlafen, dann wäre wahrscheinlich die große Katastrophe eingetreten.“ Der erste Schlaganfall kam nachts. Rudolf erinnert sich genau: „Gegen 1.28 Uhr bin ich wach geworden, weil meine Frau, anders als sonst, plötzlich im Badezimmer war, ohne Licht.“ Normalerweise schläft er um diese Zeit tief und fest. Vor allem nach Tagen wie diesen. Das Paar führt seit fast 40 Jahren ein exklusives Herren- und Damenbekleidungsgeschäft an der ABC-Straße in Hamburg, designed und schneidert Sakkos, Hosen, Anzüge für Kund:innen in aller Welt. An den Tag des Schlaganfalls erinnert sich Rudolf genau. „Es war ein sehr komprimierter, extremer 14-Stunden-Tag, wie er voller nicht sein konnte. Nach einem Abendessen sind wir sehr k.o. ins Bett gefallen und haben sofort geschlafen.“

Schnell den Notruf 112 gewählt

Trotzdem war er plötzlich hellwach, als Dorothea Sielicki, 60, aus dem Bad kam. „Irgendwas hat mir instinktiv gesagt, es ist etwas nicht wie sonst“, erzählt ihr Partner. Deshalb schaltete Rudolf das Licht an und fragte: „Was ist los?“ Die Antwort klang seltsam verwaschen: „Mir ist nur komisch. Ich leg‘ mich hin und dann ist alles gut.“ Aber Rudolf war beunruhigt. „Sie gefiel mir nicht. Ich meinte auch erkannt zu haben, dass der Winkel am Mund begann sich zu senken.“ Deshalb entschied er sich, einen Schlaganfall-Test zu machen. Darüber hatte er sich ein paar Tage zuvor zufällig mit einem Kunden unterhalten. Zehn Minuten später hat er den Notruf 112 gewählt. Sielicki kam ins nächste Krankenhaus. Wäre sie zu Hause geblieben, sie hätte den zweiten Schlaganfall am nächsten Tag vermutlich nicht überlebt.

Prof. Thomalle als Portrait
Schlaganfall-Experte Prof. Dr. Götz Thomalla

Der siebte Sinn, mitten in der Nacht? Tatsächlich können ein schiefer Mundwinkel, Gleichgewichtsstörungen und Probleme, das richtige Wort zu finden, Hinweise auf einen Mini-Infarkt im Gehirn sein. Vorboten für einen großen, echten Schlaganfall. Mediziner sprechen von einer „Transitorischen Ischämischen Attacke“, kurz TIA. Sie entsteht, wenn Teile des Gehirns nicht genug Sauerstoff und Nährstoffe bekommen. „Grund für die kurzen Aussetzer sind Blutpfropfen, die die Arterien verstopfen“, erklärt Prof. Dr. Götz Thomalla, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Meist lösen sich die winzigen Gerinnsel schnell wieder auf und die Symptome verschwinden.

Nach der ersten Attacke kam der große Schlaganfall

So war es wohl auch bei Dorothea Sielicki. In dem Krankenhaus zeigten MRT-Aufnahmen zwar Narben im Hirngewebe. „Ich fühlte mich aber gar nicht danach. Es war eigentlich alles wieder gut“, sagt sie. Der Notarzt überwies sie dennoch zur Beobachtung auf die Schlaganfall-Spezialstation, die Stroke-Unit. Ihr Glück. Denn die Patientin war sich sicher: „Da ist nichts.“ Ein Irrtum.

Dorothea Sielicki wusste damals noch nicht, dass nach so einer TIA das Schlaganfall-Risiko besonders hoch ist. Und auch nicht, dass sie unter dem größten Risikofaktor litt: Bluthochdruck. Tatsächlich war die Attacke ein letzter Alarm. Der nächste Tag im Krankenhaus verlief ganz normal. Aber dann kam die nächste Nacht und der nächste Schlag, wieder im Schlaf. „Ich wurde wach und mir war wieder komisch. Ich bin aufgestanden und gestürzt, weil mein Bein und mein Arm nichts mehr gemacht haben. Die waren einfach nicht mehr da.“

Die Tage danach: Was soll werden? Kann ich je wieder laufen? Bin ich ein Pflegefall? Verzweiflung. Tränen. Wut. Dorothea Sielicki kann nicht erklären, was ihr durch den Kopf ging, als die Ärzte erklärten: „Sie bleiben halbseitig gelähmt. Es gibt wenig Hoffnung.“ Rückblickend sagt sie: „Für mich war klar. Ich werde das nicht akzeptieren. Ich werde kämpfen.“ Monate in Spezialkliniken und Reha-Zentren folgten: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie. Dorothea Sielicki trainierte hart und holte sich Stück für Stück ihr altes Leben zurück. Schließlich konnte sie zumindest wieder am Stock gehen und ihre rechte Hand bewegen. Doch die nächtlichen Krämpfe im gelähmten Bein blieben. „Es war, als säße in der Muskulatur eine Sprungfeder. Ich hatte keine Kontrolle. Plötzlich schoss es hoch“, erzählt sie.

Im UKE wird eine Spezialtherapie verordnet

Deshalb vereinbarte sie auf Initiative eines befreundeten Arztes einen ersten Termin bei Prof. Thomalla im UKE. „Gott sei Dank hat er sich meiner angenommen und nicht erwähnt, dass es nicht so gut aussieht“, sagt Sielicki rückblickend. Im Gegenteil: Er machte ihr Mut und verordnete ihr etwas, das Schlaganfall-Patient:innen in der Reha noch einmal auf ein ganz neues Level heben kann: die Forced-Use-Therapie. Bei dem zehntägigen Intensiv-Training werden bestimmte Regionen im Gehirn stimuliert, damit sie sich neu strukturieren. „Eine Reihe von klinischen Studien zeigen, dass sich motorische Erscheinungen, wie etwa Lähmungen, mit dieser Methode deutlich verbessern können“, so der Schlaganfall-Experte. Da die Therapie jedoch große Ausdauer und Eigeninitiative erfordert, richtet sie sich an besonders motivierte Patient:innen. Und eine solche ist Dorothea Sielicki.

Schlaganfallpatientin mit ihrem Mann an der Kassentheke ihres Ladengeschäftes
Das Paar zusammen im Geschäft

Es ist September. Die Schneiderpuppen im Schaufenster der Herrenboutique tragen Anzüge in den Farben der aktuellen Herbst-Saison: tannengrün, dunkel-orange, rot. Beim Business-Dress ist Mohair ein Thema, aber auch Flanell und Tweed. Dorothea Sielicki hat die Kombinationen zusammengestellt: viel Farbe. Sie stützt sich auf einen bunten Designer-Gehstock, der zu ihrem Jacket in Strong Blue passt. „Die Farbe soll uns ermutigen, über das Offensichtliche hinauszusehen“, steht im aktuellen Fashion Color Trend Report. Wenn es Kunden zu grell ist, sagt Sielicki ihnen: „Seien sie ruhig mutig.“ Das ist auch ihr Lebensmotto.

Hartes Training ermöglicht neue Beweglichkeit

Die Kauffrau steht zwischen Regalen mit glänzenden Bindern, seidenen Einstecktüchern und taillierten Zweireihern. Es war ein harter Weg aus dem Rollstuhl zurück in den Laden mit dem neuesten Chic. Der rechte Fuß steckt in einer Schiene, geht noch wie in Zeitlupe mit. Aber sie kann Kunden wieder die Hand geben. Das kling selbstverständlich, ist es aber nicht: „Noch vor sechs Monaten krampften meine Finger so heftig, dass ich sie nicht lösen konnte“, erzählt sie. Inzwischen bindet sie wieder Krawatten, faltet Einstecktücher und zieht morgens vor dem Spiegel sogar selber den Lidstrich. Sie stellt zwei Wassergläser auf den Tisch: Auch das ein Ergebnis harter Arbeit: „Dafür habe ich bestimmt hundert Stunden geübt und viel Geschirr zerdeppert.“ Sie hebt die Hand, macht eine Faust, öffnet die Finger. Es sieht leicht aus. Für die Geschäftsfrau ist es ein kleines Wunder.

Schlaganfallpatientin steht in der Küche und schneidet Gemüse
Wie selbstverständlich schneidet die Patientin wieder Gemüse

Der Schlaganfall ist die häufigste Ursache für Behinderungen bei Erwachsenen. Etwa 270.000 Deutsche trifft es jedes Jahr. Je länger die Durchblutung unterbrochen ist, umso mehr Nervenzellen sterben ab. Bei Dorothea Sielicki sprachen die Ärzte von einem besonders schlimmen Infarkt. Prof. Thomalla: „Häufig bleiben Lähmungen, Schluck- und Sprechstörungen zurück. Dann ist eine neurologische Rehabilitation wichtig – bestenfalls mit einem intensiven Training der kranken Körperseite. Weil die gesunde Seite immer besser funktioniert, neigen Menschen dazu, sich gar nicht mehr die Mühe zu machen, mit der kranken Seite zu trainieren. Dazu zwingt man sie bei der Forced Use Therapie.“

„Nein, nein, bitte nein“, sagt Dorothea Sielicki, wenn man ihr helfen will. „Ich mache alles allein.“ Sie trainiert jeden Tag mehrere Stunden, damit ihr Gehirn die vielen tausend kleinen Befehle wieder lernt, die durch den Schlaganfall gelöscht wurden. Dabei helfen auch ungewöhnliche Hilfsmittel wie zum Beispiel ein Roboter-Handschuh, der die reglosen Glieder bewegt – immer und immer wieder. „Als sich nach drei Monaten plötzlich mein kleiner Finger wenige Millimeter nach links schob, konnte ich vor Glück nicht schlafen“, erzählt Sielicki. Zwei Wochen später „wachte“ auch ihr Daumen auf. Seitdem geht es in winzigen Schritten aufwärts.

Gehtraining Physiotherapie
Intensives Training der erkrankten Seite führt zu Verbesserungen
Frau steht am Tresen und verpackt etwas
Jede Handbewegung musste Dorothea Sielicki neu trainieren

Dem Gehirn einen Streich spielen

Wie kann sich ein Gehirn nach einem Infarkt wieder erholen? Dazu forscht Thomalla seit Jahren. Eine Methode ist die sogenannte Spiegeltherapie, das Lernen durch Illusion. Auch Sielicki nutzt den Trick. „Wenn meine rechte Hand etwas nicht kann, setze ich mich vor den Spiegel und mache es mit links“, erklärt sie. „Das Gehirn denkt, es passiert mit rechts.“ Spiegelneuronen im Gehirn sind für diesen verblüffenden Effekt verantwortlich. Auf diese Weise haben zum Beispiel ihre rechten Finger wieder gelernt, Münzen zu greifen.

Zurück in die Hamburger Boutique in der Nähe des Gänsemarktes: Pling. Ein Kunde bezahlt. Die Kasse springt auf. Sielicki schlägt einen Kaschmirpullover in Seidenpapier, befestigt es mit einem Klebestreifen. Einfache Handgriffe, alle wieder einstudiert. Sie sagt glücklich: „Der Arm ist wieder gut.“ Doch der Weg zur Genesung ist noch weit. Das rechte Bein. Es knickt immer noch nach innen weg und bleibt beim Treppensteigen an den Stufen hängen. Bordsteine sind für sie Steilwände, Fußmatten Stolperfallen. Fußgängerampeln und Rolltreppen meidet sie: „Ich habe eine große Unsicherheit gefühlt, weil mein Bein einfach nicht auf mich gehört hat. Es ist passiert, dass ich auf der Straße gewesen bin und mein Bein gesagt hat: Jetzt nicht. Dann bin ich stehen geblieben. Am meisten Angst hatte ich aber vor dem Treppensteigen. Dass ich trotz Festhaltens die Stufen runterrausche.“

Patientin und Therapeutin Physiotherapie
Therapeutin Julia Keyser trainiert mit der Patientin
Schlaganfallpatientin trainiert an Sprossenwand
Forced-Use-Therapie mit dem erkranklten Bein

Ein Intensivtraining für halbseitig gelähmte Patient:innen

Deshalb startete sie 14 Monate nach dem Schlaganfall in der ambulanten Physiotherapie auf dem UKE-Gelände mit der Forced-Use-Therapie. Das Intensivtraining wurde eigens für halbseitig gelähmte Patient:innen konzipiert, die ähnlich wie Dorothea Sielicki bereits ein Glas Wasser greifen oder mindestens 20 Meter gehen können. Außerdem sollten sie ein klares Ziel haben. Dorothea Sielickis Wunsch lautete: Mehr Sicherheit und mehr Teilnahme am Leben, indem ich auch sicherer auftrete vor den Menschen. Und: Ich möchte meinen Stock loswerden.“

Therapeutin Julia Keyser begrüßt Patientin Sielicki in der UKE-Physiotherapie. Zwei Wochen lang trainieren sie jeden Tag gemeinsam vier Stunden: mindestens drei Übungen, plus Hausaufgaben. Am Wochenende ist Pause. „Wer mitmacht, braucht Motivation, Disziplin und einen starken Willen“, erklärt Keyser. Dann holt sie eine Stoppuhr raus und sagt: „Auf die Plätze, fertig, los.“ Alle Übungen sind individuell auf die Probleme der Patientin zugeschnitten. Sielickis rechter Fuß steht schief, dreht sich nach innen. Also trainieren sie Fußheber und Hüftbeuger.

Krankengymnastik geht auch schick: Patientin Sielicki trägt eine bequeme Baumwoll-Hose im Karo-Glencheck, dazu ein passendes T-Shirt. Sie hält sich an einer Sprossenwand fest und hievt den rechten Fuß auf einen Stuhl. 50 Zentimeter. Hoch, runter, hoch, runter... Nach 30 Sekunden darf sie kurz verschnaufen. Dann geht es weiter: hoch, runter, hoch, runter. Die Übung wird zehnmal wiederholt. „Sie ist so konzipiert, dass die Patientin an ihre obere Leistungsgrenze kommt“, erklärt Keyser. Sielicki schnappt ein bisschen nach Luft, zwingt sich aber zur nächsten Übung. Jetzt muss sie über sechs Seile auf dem Boden steigen. So wird das Gleichgewicht trainiert. Wieder läuft die Uhr. Stopp nach 21 Sekunden. Stopp nach 19 Sekunden. Stopp nach 17 Sekunden. Therapeutin Keyser lobt und fragt: „Jetzt ohne Stock?“ Sielicki schüttelt den Kopf. Noch braucht sie die Stütze, sonst kippt sie um.

Schlaganfallpatientin läuft mit Gehstock vor einem Laden entlang
Unterwegs ist Dorothea Sielicki noch auf den Gehstock angewiesen

Die Fortschritte sind gewaltig, doch das Training geht weiter

Kraft. Koordination. Ausdauer. Sechs Wochen später schließt Dorothea Sielicki morgens den Laden auf. Im Schaufenster ist es Winter geworden: neben einem Kaschmirmantel liegen dicke Wollpullover und warme Rollis. Dorothea Sielicki lacht: „Gestern habe ich es zum ersten Mal allein über die Fußgängerampel geschafft.“ Die Bewältigung von Alltagssituationen hat sie auch im Forced-Use-Training geübt. Zu jeder Therapieeinheit gehört ein einstündiger Spaziergang. Mit gemütlich hat das aber nichts zu tun. „Es ist für die Patient:innen ein großer Stressfaktor, wenn Leute um einen herumlaufen oder ein Auto kommt und man an der Straße halten muss“, so Keyser. Gemeinsam bewältigen sie deshalb Unebenheiten, indem sie etwa über Gras laufen. Sie steigen Treppen rauf und wieder runter, auch Schrägen. Sielicki strahlt: „Ich fahre wieder Auto und habe dadurch unglaublich viel Freiheit gewonnen.“

Sielicki geht in den hinteren Teil des Ladens. Dort sortiert ihr Partner Frank Rudolf gerade Hemden. Der Fuß dreht nur noch leicht nach innen. Sie sagt: „Das muss noch besser werden.“ Deshalb will sie weiter trainieren. Die Krankenkasse hat bereits eine zweite Forced-Use-Therapie genehmigt. Frank Rudolf nimmt seine Lebensgefährtin in den Arm und sagt: „Ich hätte es nie gedacht, aber die Krankheit hat unser Leben intensiver gemacht. Wenn ich sehe, dass Dorothea wieder Gemüse schneiden kann, bekomme ich feuchte Augen, weil es mich so glücklich macht.“ Sielicki nickt: „Jedem Menschen, der sowas erlebt, würde ich raten, nie an sich selbst zu zweifeln, nicht aufzugeben, jeden Tag neu an sich zu glauben und es immer wieder zu versuchen. Ich hab´ das gemacht und wurde belohnt.“

Sie streicht ihrem Partner mit ihrer rechten Hand zärtlich über die Wange und sagt: „Das wollte ich unbedingt. Irgendwann habe ich das geschafft.“ Und Frank Rudolf sagt gerührt: „Das wird man im Kopf behalten bis zum letzten Atemzug.“

Schlaganfallpatintin streicht ihrem Mann über die Wange

Im Video: Prof. Dr. Götz Thomalla

Schlaganfall. Online. Verstehen.

Hamburg Online University Bild

Noch mehr Wissenswertes rund um das Thema Schlaganfall, finden Sie auch auf den UKE-Seiten der Hamburg Open Online University (HOOU@UKE), mit Lerninhalten aus Medizin und Forschung.

HOOU@UKE - Medizin. Online. Verstehen.