Wieder im Spiel
Einen Kaffee trinken, ohne dabei die Hälfte zu verschütten – was selbstverständlich klingt, ist für Thomas Winter ein Wunder der Medizin. 2013 erhält der Profi-Polospieler die Diagnose Parkinson und verliert Stück für Stück die Kontrolle über seine Bewegungen. Heute gibt ihm ein Hirnschrittmacher so exakt den Takt vor, dass er sogar wieder im Sattel sitzt.
Texte: Nicole Sénégas-Wulf, Fotos: Axel Kirchhof, Film: Martin Steimann
Ein durch und durch fröhlicher Mensch
Gekonnt knüpft der Mann in weißen Hosen und Reiterstiefeln den Schweif seines Pferdes zu einem festen Knoten. An der Art, wie mühelos die borstigen Haarstränge dabei durch seine Finger gleiten, erkennt man sofort, dass hier ein Profi am Werk ist. Es ist Thomas Winter, bis vor wenigen Jahren Deutschlands bester Polosportler. Lange spielt er mit dem höchsten deutschen Handicap, fährt internationale Turniersiege ein und holt sogar den Vize-Europameistertitel. „Und dann kam Parkinson“, sagt er und lacht, was er häufig tut, wenn er über Emotionen spricht. Überhaupt ist Winter ein durch und durch fröhlicher Mensch, der sich seinen Optimismus auch von seiner Krankheit nie hat nehmen lassen.
In der riesigen Reithalle angekommen, streichelt er seiner Stute noch einmal liebevoll über den Hals, bevor er sich mit einem Ruck in den Sattel hievt. Nach ein paar Runden nimmt er mit hoher Geschwindigkeit Kurs auf den knallroten Poloball, hebt seinen Schläger und trifft ihn auf den Punkt. Perfektes Timing. „Die ersten Anzeichen, dass irgendwas mit mir nicht stimmte, bemerkte ich hier in dieser Halle“, erinnert sich Winter, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hat. „Ich war plötzlich zu spät am Ball, mir fehlte die Kraft und ein paar Mal fiel ich sogar vom Pferd.“ Der damals 45-Jährige hat immer häufiger das Gefühl, als müsse er sich bei jeder Bewegung gegen einen Widerstand stemmen. Mit der Zeit kommen Gleichgewichtsstörungen und ein gebeugter Gang hinzu. „Als ich dann eines Morgens im Badezimmer stand und meine Hände beim Hose zuknöpfen nicht mehr zusammenbringen konnte, dachte ich, es sei wohl besser, mal zum Arzt zu gehen“, lacht er wieder.
Beim Geruchstest danebengelegen
Angst, er könne ernsthaft krank sein, hat er damals nicht. Bis auf ein paar Prellungen und kleinere Brüche durch den Sport ist er ja immer topfit gewesen. „Aber dann sagte der Neurologe, als ich durch den Flur auf sein Behandlungszimmer zuging, direkt: Für mich sieht das aus wie Parkinson.“ Kann gar nicht sein, denkt Winter noch und ist sich seiner Sache sehr sicher, als der Neurologe zur Diagnostik einen Geruchstest durchführt. „Kaffee, Menthol, Nelke – ich gab auf alles zielsichere Antworten und war ganz zufrieden mit mir. Bis ich erfuhr, dass ich fast jedes Mal danebenlag.“ Ein MRT lässt den Anfangsverdacht einer Parkinson-Erkrankung, die häufig mit einer Störung des Geruchssinns einhergeht, zur Gewissheit werden.
„Ja, und dann?“, ermuntert Iris Winter ihren Mann zum Weitererzählen und nippt an ihrem Kaffee. Die Zwei sitzen jetzt dicht beieinander in der gemütlichen Teeküche, die direkt an die Reithalle angrenzt. Die blaue Wand hinter ihnen voller gerahmter Fotos aus dem Polosport, auf denen einstige Sieger stolz ihre Pokale emporrecken.
„Nach der Diagnose wollte ich vom Arzt einfach nur wissen, was ich tun muss, damit es besser wird“, sagt Thomas Winter und lächelt nachdenklich. Die Pferde und der Sport sind sein Leben. Seit 20 Jahren wohnt er direkt auf dem 45 Hektar großen Gestüt im Hamburger Westen, das er bis ins kleinste Detail mit geplant und aufgebaut hat. Von den 120 Pferden, die er betreut, sind 14 seine eigenen. Auch seine Poloschule ist hier angesiedelt, in der er sowohl Polo- als auch klassischen Reitunterricht gibt und Pferde für den Sport züchtet und ausbildet.
„Anfangs ließ sich die Krankheit gut mit Tabletten in Schach halten. Ich funktionierte wieder und traf sogar den Ball am richtigen Punkt“, erzählt er. Doch seine Parkinsonkrankheit schreitet voran und nach sechs Jahren sind die Tablettendosen so hoch, dass Nebenwirkungen auftreten. „Mein Körper machte ständig willkürliche Bewegungen. Immer war ich am Zappeln, hatte nie Ruhe im Nacken und in den Schultern, nicht einmal nachts.“ Thomas Winter schläft schlecht, leidet ständig unter Muskelkater und auch das Essen fällt ihm zunehmend schwer. Innerhalb kurzer Zeit magert der 1,89 Meter große Leistungssportler auf 72 Kilo ab. „So machte das Leben keinen Spaß mehr.“
Neue Hoffnung Hirnschrittmacher-OP
Austherapiert mit gerade mal 53? Für Winter keine Option. Er will den Takt seiner Bewegungen wieder selbst vorgeben, den Schalter in seinem Kopf umlegen. Aber Moment – gab es da nicht eine Operation, die genau dazu in der Lage war? „Ich hatte von einem Parkinson-Patienten gehört, der wieder Gitarre spielte, nachdem man ihm einen Hirnschrittmacher eingesetzt hatte.“ Winter schöpft neue Hoffnung und vereinbart einen Termin in der Klinik für Neurologie des UKE. Dort erfährt er nach Untersuchungen, dass es für ihn genau der richtige Zeitpunkt sei, um maximal von dieser Hirn-OP zu profitieren. Bei der sogenannten Tiefen Hirnstimulation (THS) setzen Neurochirurgen dünne Stimulationselektroden in bestimmte Hirngebiete ein. „Die elektrischen Impulse hemmen überaktive Nervenzellen und können so motorische Störungen nachhaltig lindern“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Monika Pötter-Nerger, die in der Klinik für Neurologie die Arbeitsgruppe Bewegungsstörungen und Tiefe Hirnstimulation leitet. „Angst machte mir die Vorstellung, während der OP zeitweise wach sein zu müssen, um den perfekten Sitz der Sonden einzuschätzen“, gesteht Thomas Winter. Doch als er erfährt, dass der Eingriff heutzutage auch in Vollnarkose durchgeführt werden kann, ist für ihn die Entscheidung gefallen. „Gebucht, genommen, gemacht“, sagt er mit der ihm typisch lockeren Art und strahlt.
„Ich habe die Verbesserung direkt gespürt."
Rund zehn Stunden dauert die Operation. Ein Lauschangriff aufs Gehirn, bei dem das UKE-Interventionsteam aus Neurochirurgie, Neurologie, Neurophysiologie sowie Pathophysiologie zunächst mittels modernster Abhörtechnik die erkrankten Nervenzellen tief in Winters Gehirn ausfindig machen muss, um den optimalen Stimulationspunkt zu ermitteln. „Da es sich um winzige Strukturen handelt, ist höchste Präzision gefragt, um benachbarte Areale zu schützen“, erklärt Dr. Pötter-Nerger. Millimeter für Millimeter bewegen die Operateure die Elektroden durch den Kopf Richtung Zielgebiet. Dabei ist ein lautes Rauschen zu hören, als würde jemand einen Sender im Radio suchen. „Dies sind die feuernden Nervenzellen im Gehirn, die wir hörbar machen“, so die Neurologin. „Je heller und lauter das Rauschen wird, desto näher kommen wir dem kranken Nervenzellbündel und können es ausschalten.“
Als Thomas Winter am 18. Januar 2022 aus der Narkose erwacht, sitzt in seiner rechten und linken Hirnhälfte je eine vierpolige Elektrode von 1,3 Millimetern Durchmesser. Von ihnen führt ein dünnes Kabel unter der Haut zum knapp unter dem Schlüsselbein implantierten Stimulator, der die Nervensignale in seinem Kopf von nun an ordnen soll. Wie fühlt man sich damit? „Super“, sagt Winter. „Ich habe die Verbesserung direkt gespürt, da war das Gerät noch nicht mal eingeschaltet.“ Sogar das Fußball-Revierderby zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV habe er gleich im Aufwachraum auf dem Laptop mitverfolgt und andere Patient:innen über den Spielstand informiert. „Das hatte mir ein Arzt vor der OP versprochen und ich fand’s toll“, schmunzelt der St. Pauli-Fan. Bereits an Tag zwei läuft er über den Krankenhausflur – aufrecht, mit Tempo und ohne zu stocken. „Ich konnte kaum glauben, was ich da sah“, erinnert sich seine Frau. Alles schien wieder leicht, Kraft und Bewegung waren plötzlich aufeinander abgestimmt. Am dritten Tag schaltet Dr. Pötter-Nerger den Stimulator ein. „Im ersten Moment war das zu viel für mich, weil das Gerät noch nicht auf meinen Bedarf kalibriert war. Ich fing mit einer Bewegung an und konnte gar nicht mehr aufhören“, erzählt Winter. Ob ihn das nicht geängstigt habe? „Nein, eher amüsiert. Ich hatte immer vollstes Vertrauen in die Ärzte und in die OP.“
Was hilft? „Das zu tun, was mir Freude macht."
Auf der Koppel direkt neben dem Holzhaus der Winters, das mit seinen vielen Sprossenfenstern urgemütlich wirkt, steht Thomas Winters ganzer Stolz: Zuchthengst Karacho. Er hat ihn selbst gezüchtet und ausgebildet. Sobald ihn das Pferd am Zaun erspäht hat, kommt es schnaubend auf ihn zugelaufen. „Ich bin total begeistert, dass ich wieder reiten kann und diese Freude auch weiterhn genießen darf. Mein Leben ist seit der Operation einfach wieder total normal“, sagt er. Natürlich habe es auch schwere Momente gegeben. Was ihm persönlich geholfen hat? „Die Heiterkeit nicht zu verlieren und das zu tun, was mir Freude macht.“ Dazu gehört auch, sich regelmäßig mit seiner Clique zu treffen, die er in der Parkinson-Tagesklinik des UKE kennengelernt hat. „Wir gehen gemeinsam Essen, lachen viel und tauschen uns natürlich auch über unsere Erfahrungen mit der Krankheit aus.“ Ein bunter Haufen, aus dem sich echte Freundschaft entwickelt habe.
Ins UKE kommt Winter alle sechs Monate zur Einstellungsüberprüfung seines Stimulators. Tabletten nimmt er nur noch zwei Mal am Tag. „Durch die Tiefe Hirnstimulation habe ich zehn wertvolle Jahre gewonnen. Jahre, in denen ich auf ganz normalem Niveau leben darf. Das ist einfach fantastisch“, freut er sich und streichelt Karachos Blässe. Sogar an Turnieren hat er im letzten Jahr wieder teilgenommen und eines davon als Vizemeister abgeschlossen. Wenn er einen Wunsch frei hätte? Winter muss nicht lange überlegen: „Dass die Medizin in zehn Jahren ein neues Wunder gegen Parkinson parat hat.“
Gehirn unter Strom
Wenn typische Parkinson-Symptome wie Zittern oder Gelenksteifheit mit Tabletten nicht mehr zu bändigen sind, kann die Tiefe Hirnstimulation (THS) helfen. Im UKE erhalten jährlich bis zu 60 Patient:innen den sogenannten Hirnschrittmacher. Für das Feintuning der Dioden im Kopf sorgt Priv.-Doz. Dr. Monika Pötter-Nerger in der THS-Ambulanz.
Parkinson sicher zu erkennen, ist nicht immer leicht. Auch, weil sich die neurologische Erkrankung schleichend und in verschiedensten Formen bemerkbar macht – von völliger Muskelsteifheit und Verlangsamung über Zittern bis zu spastikartigen Bewegungen.
„Erste Symptome sind meist eine zunehmend starre Mimik oder Gleichgewichtsstörungen“, sagt Dr. Pötter-Nerger. Spezielle Tests, wie etwa ein Geruchstest oder Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren, die in der Ambulanz der Klinik für Neurologie angeboten werden, können die Parkinson-Krankheit entlarven.
„Wir wissen, dass bei der Parkinson-Krankheit bestimmte Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen wie der schwarzen Substanz vorzeitig altern. Gehen diese Neuronen zugrunde, fehlt ihr Botenstoff, das Dopamin, was die typischen Parkinson-Symptome bestimmt“, erläutert die Neurologin. Anfangs lässt sich die Erkrankung meist gut mit Medikamenten behandeln, die das fehlende Dopamin kompensieren. „Auch interventionelle Strategien wie die Tiefe Hirnstimulation sind heute ein fester Bestandteil der klinischen Routine“, so Dr. Pötter-Nerger. Dabei wird in eine oder beide Hirnhälften eine Diode eingeführt, die über Kabel unter der Haut mit dem Stimulator in der Brust verbunden sind.
Ob und wann eine THS in Frage kommt, hängt vom Fortschreiten und von der Art der Erkrankung ab. „Wesentliche Indikatoren sind Schwankungen in der Beweglichkeit über den Tag, zunehmendes Zittern sowie Unverträglichkeiten der Medikamente, die nach der OP um 50 Prozent reduziert werden können“, erklärt Dr. Pötter-Nerger. Je früher operiert werde, desto größer seien die positiven Effekte.