Auf der Überholspur zur Diagnose
Vor der gezielten Therapie steht die richtige Diagnose. Bei seltenen Erkrankungen kann der Weg zur Erkenntnis mitunter lang sein. Ein Fall von zu früh geborenen Zwillingen zeigt beispielhaft, wie moderne und damit schnelle Sequenzierverfahren bei der klinischen Versorgung von Patienten mit genetischen Krankheiten helfen können und damit eine Brücke schlagen zwischen der universitären Humangenetik und dem Klinikalltag.
Was haben Sie nur? Die beiden Zwillingsbrüder stellten die Ärzte vor ein Rätsel. Beide waren durch eine Frühgeburt zur Welt gekommen. Acht Wochen später waren sie immer noch nicht kräftig genug, um sich selbstständig bewegen und ausreichend atmen zu können. „Die Jungen litten unter einer Muskelschwäche, für die es keine Erklärung gab“, sagt Oberärztin Dr. Maja Hempel vom Institut für Humangenetik. Die meisten Möglichkeiten der Routinediagnostik waren zu diesem Zeitpunkt schon ausgeschöpft – eine extrem belastende Situation für die Eltern und die betreuenden Ärzte. Denn ohne Kenntnis der Krankheitsursache kann keine mögliche Therapie eingeleitet werden. Aussagen über den Verlauf der Krankheit sind ebenfalls unmöglich. „Der nächste diagnostische Schritt wäre eigentlich eine Muskelbiopsie gewesen, die man den Zwillingen aufgrund ihres geringen Gewichts und ihrer reduzierten Muskelmasse nicht zumuten konnte“, so Hempel. „Mit der Exom- Sequenzierung eröffnete sich jedoch eine vollkommen neue Diagnostikmöglichkeit.“
Ein Prozent entscheidend
Exom, darunter verstehen Genetiker den Teil der genetischen Information eines Menschen, der aufgrund seiner Struktur den Bauplan für Proteine enthält. Für die Suche nach Genmutationen, die Auslöser einer bestimmten Krankheit sein können, ist es daher sinnvoll, sich auf das Exom zu konzentrieren: „Das menschliche Exom macht nur rund ein Prozent des Genoms aus“, erklärt Hempels Kollegin am Institut für Humangenetik, Dr. Fanny Kortüm. Übersetzt auf die Dimensionen einer klassischen Lutherbibel mit ihren rund 1500 Seiten und 4,4 Millionen Buchstaben bedeutet das: Statt 725 Bibeln mit dem etwa 3,2 Milliarden „Buchstaben“ umfassenden „Gesamttext“ der menschlichen Erbinformation müssen die Sequenziermaschinen nur siebeneinhalb Bibeln nach Auffälligkeiten durchchecken.
Auch das dauert. Aber derartige Hochdurchsatzverfahren liefern regelmäßig bedeutsame Treffer. So konnten die UKE-Forscherinnen in diesem Jahr zur Identifizierung mehrerer Krankheitsgene beitragen. Im Fall der Zwillingsbrüder wurde ausgehend von einer kleinen Blutprobe nach nur sechs Wochen Analysezeit der die Krankheit verursachende Gendefekt gefunden: eine Veränderung im MTM1-Gen. „Mutationen in diesem Gen sind mit einer myotubulären Myopathie assoziiert“, sagt Maja Hempel.
Auch wenn es dafür bisher keine heilende Therapie gibt: Dank der Diagnosestellung konnten die behandelnden Ärzte auf weitere Diagnosemaßnahmen verzichten, sich auf die Behandlung der Symptome konzentrieren und den Verlauf der Krankheit abschätzen. Die Eltern sind inzwischen in einer Selbsthilfegruppe organisiert und haben Kontakt zu einem Unternehmen aufgenommen, das klinische Studien zur spezifischen Therapie bei Patienten mit myotubulärer Myopathie plant.