Multimorbidität und Leitlinien
Cathleen Muche-Borowski,
Dagmar Lühmann, Hans-Otto Wagner,
Heike Hansen,
Ingmar Schäfer,
Hendrik van den Bussche,
Martin Scherer
Hintergründe und Ziele
Multimorbidität ist kein schicksalhafter Prozess, sondern im höheren Lebensalter ein sehr häufiges Phänomen und damit eine Herausforderung hinsichtlich der komplexen Versorgungsbedarfe. Diese nehmen stetig zu, vor allem bei älteren Menschen. Aber gerade für die Versorgung dieser Patientengruppe existieren kaum evidenzbasierte Leitlinien. In den Leitlinien zur Versorgung von einzelnen Erkrankungen wird Multimorbidität nicht ausreichend berücksichtigt, die Anwendung aller in Frage kommenden Einzelleitlinien kommt wegen der Vielzahl der Empfehlungen mit ihren Interaktionen und Inkompatibilitäten ebenfalls nicht in Frage. In der S3-Leitlinie „Multimorbidität“ wird ausgehend von Einzelfallvignetten, in einem „bottom-up“ Ansatz und unter Einbezug von externer Evidenz sowie klinischer Expertise ein übergreifendes Versorgungskonzept erarbeitet. Ziel ist, einer leitliniengerechten Versorgung multimorbider Patientinnen und Patienten näherzukommen.
Methodik
Die Bearbeitung erfolgt in sechs qualitativen und/oder quantitativen Arbeitsschritten:
- Erarbeitung von Fallvignetten mit einer interdisziplinären Fokusgruppe anhand fiktiver Patientinnen und Patienten mit bekannten Multimorbiditätsmustern
- Systematische Leitliniensynopse nationaler, evidenzbasierter Leitlinien auf Basis der berichteten Hauptdiagnosen
- Erfassung der hausärztlichen klinischen Einschätzung zu den Aspekten: Abwenden gefährlicher Verläufe, Festlegung von Versorgungszielen, notwendige Diagnostik/ Therapie, Lebensstil- und psychosoziale Faktoren
- Zusammenfassung der externen Evidenz und der Experteneinschätzung zu einem fallspezifischen Versorgungsalgorithmus (N-of-one-guidelines)
- Ableitung eines Meta-Algorithmus aus diesen N-of-one-guidelines
- Identifikation von Patientenwünschen und -werthaltungen durch eine systematische Literaturaufbereitung und qualitative Interviews mit multimorbiden Personen
Ergebnisse
Der „Meta-Algorithmus“, erstreckt sich, ausgehend vom aktuellen Behandlungsanlass,
bis zur Langzeitversorgung von multimorbiden Patientinnen und Patienten und schließt bei jeder Entscheidung die Werthaltungen (Präferenzen) Patientinnen und Patienten ein. Der hier erarbeitete Meta-Algorithmus bildet, im Gegensatz zu einem einfachen Symptom-Algorithmus, einen übergeordneten hausärztlichen Denkprozess ab, der den ganzen Menschen berücksichtigt. Er verlässt die klassische Abfolge von Problem, Diagnose, Leitlinie, Therapie und leitet Arzt und Patient zu individuellen Lösungen. Der Projektverlauf wurde u.a. 2013, 2014 und 2017 auf den Jahrestagungen des Guideline International Network (G-I-N) in San Francisco, Melbourne und Cape Town vorgestellt und diskutiert. Die Leitlinie selbst wurde 2017 publiziert.
Veröffentlichung
- Muche-Borowski C, Lühmann D, Schäfer I, Mundt R, Wagner H, Scherer M and the Guideline Group of the German College of General Practice and Family Medicine (DEGAM). Development of a meta-algorithm for guiding primary care encounters for patients with multimorbidity using evidence-based and case-based guideline development methodology. BMJ OPEN. 2017;7(6).
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Multimorbidität.
Laufzeit: 2013-2018, geplante Überarbeitung 2022
Kontakt: Cathleen Muche-Borowski