Von Schmutz und Putz in Zeiten der Cholera
Seitdem die Medizin verstanden hat, dass Krankheiten durch Bakterien und Viren ausgelöst und übertragen werden, gehört das „Unschädlichmachen“ eben jener Mikroorganismen zu den Strategien der Seuchenbekämpfung. In der aktuellen Corona-Krise gehört die Desinfektion öffentlicher Plätze, viel genutzter Oberflächen wie Türklinken und auch das gründliche Reinigen oder Desinfizieren der Hände zum Schutz gegen das Virus zu unserem Alltag. Ähnliche Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung wurden schon bei früheren Seuchen eingesetzt, wie vor ca. 170 Jahren in Hamburg. Diese zeitgenössische Postkarte aus der Sammlung des Medizinhistorischen Museums zeigt eine sogenannte „Desinfektionskolonne“, die während der Hamburger Choleraepidemie von 1892 eingesetzt wurde, um die Seuche einzudämmen.
In nur drei Monaten starben von den etwa 17.000 Infizierten in der Stadt ca. 8.600 Menschen an der Cholera. Grund für die explosionsartige Verbreitung der Krankheit war in erster Linie Hamburgs schlechte sanitäre Infrastruktur. Verseuchtes Elbwasser gelangte ungefiltert in die Haushalte und Wasserspeicher und konnte sich in den in jenem Jahr besonders warmen Temperaturen gut vermehren. Dadurch, dass besonders in Armen- und Arbeitervierteln die Menschen oft eng zusammenlebten, breitete sich die Cholera dort besonders rasant aus. Über das Wasser und durch Darmbakterien an Kleidung, Lebensmitteln und Oberflächen konnten sich innerhalb kürzester Zeit viele Hamburgerinnen und Hamburger anstecken.
Die Postkarte, die derzeit in unserem Ausstellungsraum „Fortschritt und Erfassung“ zu sehen ist, zeigt eine von Robert Koch angeordnete Maßnahme, um die Ausbreitung der Cholera einzudämmen. Neben der Schließung des Hafens und strikter Einhaltung der Hygiene, z.B. durch Abkochen des Wassers und sauberer Wäsche, hatte die Desinfektion der besonders schwer betroffenen Quartiere oberste Priorität. Zeitweise waren 400 Mann in „Desinfektionskolonnen“ unterwegs, es heißt, sie hätten Höfe, Wohnungen, Möbel und selbst Kleidung mit Karbol und Chlorkalk gereinigt. Es gibt sogar Berichte, denen zufolge Personen mit diesen Mitteln desinfiziert wurden. Das wichtigste Ziel der Desinfektionskolonnen aber waren die Wasserkästen. Jene ein wenig an die Spülkästen alter Toiletten erinnernden Becken, in denen das aus der Elbe stammende Trinkwasser in den Wohnungen ankam. Auf dem Boden der Wasserkästen sammelten sich Schwebestoffe aus dem Fluss. Das Sediment bildete in den warmen Sommermonaten eine ideale Brutstätte für Bakterien. Jede Spülung der Kästen begünstigte neue Ausbrüche im Haus. Mit einer kräftigen Ladung Kalk sollte das verhindert werden.
Sauberkeit und Desinfektion zeigten sich in Hamburg an ganz unterschiedlicher Stelle. Zum einen war da der Hamburger Hafen, dessen Wirtschaft durch die Cholera zunächst zum Erliegen kam. Die Schiffsdesinfektion in der Schiffsquarantänestation Groden nahe Cuxhaven, und ab 1900 auch das Institut für Schiffs- und Tropnekrankheiten (heute Bernhard-Nocht-Institut) waren bei Verdacht auf Erkrankungen wie Cholera oder der Pocken für die Desinfektion und ärztliche Untersuchung wie ggf. Quarantäne der Besatzung zuständig.
Auch Reisen mit der Bahn waren nur unter strengen Hygienemaßnahmen möglich. Aufgrund der Epidemie wurde der Bahnverkehr drastisch reduziert, wie die Kölnische Zeitung berichtete. Reisende, die aus Hamburg kamen, wurden dazu gezwungen, ihr Gepäck desinfizieren zu lassen, was oft dessen Inhalt ruinierte. In einem Brief von Rudolf Hetz vom 27. August 1882 an seine Eltern heißt es: Die Bahnstationen sind abgeriegelt und stinken nach Carbol, und ich war buchstäblich der einzige Reisende auf dem Weg nach Hamburg.
Ein weiter Augenzeugenbericht stammt von der 23-jährigen Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns, die in Travemünde auf ihre Hochzeitsgesellschaft aus Hamburg wartete. Die gesamte Gesellschaft musste desinfiziert werden, interessanterweise war der Pastor davon ausgenommen. Regelmäßige Telegramme ihrer Familie, die ihr bestätigten, Alle sind noch bei bester Gesundheit
, bezeichnete sie als nervenaufreibend
. Während ihrer Flitterwochen wurde das junge Paar –bewaffnet mit Gesundheitszertifikaten
– zwei Mal von Ärzten in der Bahn kontrolliert, und alle anderen Passagiere mieden ihre Gesellschaft. So hörten sie eine Dame sagen: Die sind sicher aus Hamburg, sollten wir ins nächste Abteil gehen.
Auf den Weg nach Berlin hatten sie sogar eine Auseinandersetzung mit einem Mann der schreckliche Flüche auf Hamburg ausstieß
. Dies zeigt, wie stark Reisende aus Hamburg Ausgrenzungen und auch die physische Unannehmlichkeit, die eine Desinfektion mit sich brachte, erfuhren.
Hamburg erfuhr zur Zeit der Cholera eine regelrechte „Landflucht“ der bessergestellten Bürger. Wer konnte, zog sich mit seinen Familien in ländliche Gebiete zurück. Diejenigen, die blieben, folgten eigenen Vorsichtsmaßnahmen: Albert Westenholz beschrieb in seinen Kindheitserinnerungen, wie man sich, ausgiebig wusch, und alles abkochte und erhitz(t)e
. Auch der Anwalt Dr. Buehl beschrieb, dass nicht nur Trinkwasser und Milch, sondern auch das Wasser zur Reinigung der Böden abgekocht wurde. Diese Sicherheitsmaßnahmen wurden für Wochen und sogar Monate
, auch nach der Cholera, fortgeführt. Der Reedereibesitzer Carl Laeisz erinnert sich ebenfalls an das Abkochen des Wassers und dass alles was ins Haus gebracht wurde, wie Brot, Bettzeug und so weiter im Ofen erhitzt werden musste
.
Diese Prozeduren wurden nicht zuletzt durch das Personal möglich gemacht. Die Arbeiterklasse konnten das Tragen und Kochen von Wasser nicht im gleichen Umfang leisten. Entgegen der offiziellen Anordnungen, auch nach der Epidemie noch Wasser abzukochen, hielten sich nicht alle an diese Verordnungen, selbst in Stadtteilen wie z.B. St. Georg-Nord, in der die Seuche besonders stark um sich griff. Ein Schüler Robert Kochs, Julius Richard Petri, berichtete über eine Beobachtung auf offener Straße: An Hauswänden angebrachte Plakate, in der Nähe eines Zugangs zur Hauptwasserleitung, verboten Leuten das dortige Wasser zu nutzen. Dennoch kamen Frauen aus den umgebenden Häusern, um ohne Zögern das Wasser von diesen Haupthähnen oder besser gesagt der Elbe zu beziehen. Als sie gefragt wurden, warum sie dies trotz des Verbotes taten, antworteten sie ‚Solche Plakate werden sowieso nicht gelesen – viele können sowieso nicht lesen.
Zusätzlich negativ auf die hygienischen Bedingungen wirkte sich das Fehlen von Krankenwagen und Transportmöglichkeiten für Leichen aus. Ein Hamburger Arzt schrieb der Berliner Vossischen Zeitung am 26. August, dass es nur 7 Ambulanzen in ganz Hamburg gäbe, und dass es 5-6 Stunden dauere, die Kranken und Toten fort zubringen!.
Für zwei Tage fuhr der Journalist Karl Wagner aus Wien einen solchen Krankentransport. Die Zustände beschreibt er wie folgt:
Die Fahrzeuge wurden von Pferden gezogen, Kutschen, bei denen die Sitzpolster abmontiert wurden, sodass Patienten, die wir in Decken einwickeln mussten, auf den bloßen Holzgestellen der Sitze transportiert wurden. Es war unfassbar, 5-7 große Löcher wurden in den Boden der Kutsche gesägt, durch die die Ausscheidungen der Patienten auf die Straße flossen!!! Zu Beginn nahm ich ein 14-jähriges Mädchen auf, dann eine alte Frau und einen Jungen. Die Frau starb auf dem Weg… die Behausungen, die ich erreichte, waren von Dreck überzogen, sodass ihr Anblick mir größere Übelkeit bereitete als die Cholera selbst. Während meines Dienstes transportierte ich 132 Patienten, von denen fast die Hälfte auf dem Weg starben.
Während sich die Mittelklasse also sich in ihren Häusern einschloss, zeigte sich die Besorgnis der einfachen Bürger auf eine andere Weise: Der Alkoholkonsum stieg drastisch an. Besonders hoch war dieser bei Rettungswagenfahrern, Leichenträgern, den Desinfektionsarbeitern und freiwilligen Krankenpflegern, die in engen körperlichen Kontakt zu den Opfern kamen. Ambulanzfahrern wurde eine halbe Flasche Wein oder Cognac
mit ihrem Mittagessen mitgegeben. Nicht nur sollte es [d]ie Übelkeit über den tagtäglichen Umgang mit den Kranken und Toten
, hinweghelfen, viele Firmen, die alkoholische Getränke herstellten, vermarkteten ihre Produkte sogar als Heil- oder präventive Mittel gegen die Cholera, wie alte Werbeplakate zeigen. In einem Lied aus der Zeit heißt es: Schnaps ist gut gegen Cholera
, und in Geschäften wurden alkoholische Getränke wie „Cholera-Bitter“ angeboten. Der Alkoholgenuss war stellenweise so fatal, dass die Leichenfahrer und Ambulanzfahrer fast immer betrunken waren, von den ebenfalls meist betrunkenen Desinfektionsarbeitern mit Carbol abgespritzt wurden […] bessergesagt, ein kleines Rinnsal tropfte auf ihre Gummi-Mäntel…
, so behauptete der Arzt Max Nonne. Angesichts der Ausmaße, die die Cholera 1892 in Hamburg annahm, kann man all jene Berufsgruppen, die sich um Kranke oder verstorbene Infizierte kümmerten, sowie auch die Arbeiter der Desinfektionskolonnen im Lichte der aktuellen Pandemie durchaus als „Essential Workers" bezeichnen. Die Postkarte in unserer Ausstellung ist ein kleiner Blick in ihren Alltag.
Quellen:
Weisser, Ursula, 1995: Tod in Hamburg. Die große Choleraepidemie von 1892 im Zeichen der neuen bakteriologischen Seuchenlehre. Vortrag im Wissenschaftshistorischen Kolloquium des Medizinhistorischen Instituts der Universität Mainz, 07.02.1995.
Evans, J. Richard, 2005: Death in Hamburg- Society and Politics in the Cholera Years, USA 2005, First published in Oxford 1987. Die Zitate wurden von der Autorin ins Deutsche übertragen.
Autorin: Nadja Huckfeldt