Salvarsan

Myosalvarsan-Präparat | Bayer, Leverkusen | um 1935 | Inv.-Nr. 13326,0008
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Myosalvarsan-Präparat | Bayer, Leverkusen | um 1935 | Inv.-Nr. 13326,0008

Die Suche nach einem wirksamen Medikament gegen Covid-19 beschäftigt derzeit Forscher/innen auf der ganzen Welt. Vor genau 100 Jahren beschäftigte die Medizin eine andere Krankheit: die Syphilis. Den Durchbruch erreichte ein deutscher Arzt. Er entwickelte das erste gezielt wirkende Chemotherapeutikum.

Im Jahr 1910 brachten die Farbwerke Hoechst die organische Arsenverbindung Arsphenamin (Dioxydiamidoarsenobenzol) unter dem Namen Salvarsan® („heilendes Arsen“) in den Handel. Als „Magic Bullet“ ging dieses erste mit chemischen Methoden entwickelte Medikament in die Medizingeschichte ein. Auf dem Konzept, spezifische Eigenschaften von Mikroorganismen oder Krebszellen selektiv mit einem Medikament anzugreifen, das für den Rest des menschlichen Körpers unschädlich sein sollte, basieren alle modernen Antibiotika und Chemotherapeutika.

Der Arzt Paul Ehrlich (1854–1915) hatte schon jeher ein starkes Interesse an Chemie und Histologie. Er beobachtete, dass Mikroorganismen Farbstoffe selektiv aufnehmen und das umliegende Gewebe farblos bleibt. Bakteriolog/innen und Patholog/innen nutzen die unterschiedliche Affinität von natürlichem Gewebe für synthetische Farben, um Zellstrukturen und Bakterien sichtbar zu machen. Die Beobachtung, dass manche Farbstoffe für die Mikroorganismen toxisch und für das umliegende Gewebe harmlos sind, führte zur Entwicklung des neuartigen Therapeutikums auf chemischer Basis. Ehrlich brachte Jahre seines Lebens damit zu, Farbstoffe herzustellen und sie chemisch so zu modifizieren, dass sie diese Anforderungen erfüllten. Wie bei der Entwicklung heutiger Antibiotika war sein Ziel, Mikroorganismen gezielt chemisch auszuschalten.

Es gab damals zwei Erkrankungen, an der unzählige Menschen starben: die Tuberkulose und die Syphilis. Beide Erkrankungen werden durch Bakterien verursacht und sind hochansteckend. Quer durch alle Schichten der Bevölkerung schlug die Syphilis zu, deren Verbreitung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Die Krankheit verläuft in drei Stadien. Das erste Syphilis-Anzeichen zeigt sich etwa nach drei Wochen der Infektion. An der Eintrittsstelle des Erregers bildet sich ein scharf begrenztes, flaches Geschwür, die Lymphknoten schwellen an. Sie schmerzen nicht und fühlen sich hart an. Etwa vier bis zehn Wochen nach der Infektion kann das zweite Syphilis-Stadium (Sekundärstadium) auftreten, das sich in grippeähnlichen Symptomen und Hautausschlägen äußert. Nach dem zweiten Syphilis-Stadium kann die Krankheit zu einem längeren Stillstand kommen. Dieser kann bis zu zehn Jahre andauern. Im dritten Stadium kommt es zum Befall der inneren Organe, so dass Gewebezerstörungen und Nervenschädigungen auftreten. Lähmungen, Schmerzanfälle, Empfindungsstörungen, Demenz und Tod sind schließlich die Folge. Syphilis wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem mit giftigem Quecksilber behandelt, indem man den Körper des/der Erkrankten großflächig bestrich. Die Patient/innen wurden in überhitzte Räume und unter wärmende Decken gesteckt, um die Resorption des Quecksilbers zu verbessern.

Die Grundlage für eine wirksame Therapie legten 1905 Fritz Schaudinn (1871–1906) und Erich Hoffmann (1868–1959): Gemeinsam entdeckten sie am Berliner Klinikum Charité den Syphiliserreger Spirochaeta pallida (auch bekannt als Treponema pallidum). Paul Ehrlich hatte durch umfangreiche Versuchsreihen erkannt, dass Zellen unterschiedliche Angriffspunkte (Rezeptoren) haben. Passt ein Farbstoff an die Rezeptoren, wirkt er wie ein Schlüssel und kann in die Zelle gelangen. Bereits 1863 hatte der französische Apotheker und Pharmakologe Antoine Béchamp (1816–1908) eine organische Arsenverbindung synthetisiert, die wegen ihrer vermeintlich geringen Toxizität den Namen „Atoxyl“ (ungiftig) erhielt.

1905 stellte sich heraus, dass sie gegen Trypanosomen, die Erreger der Schlafkrankheit, wirksam war. Atoxyl tötete zwar die Trypanosomen, weil es in die Zellen selektiv aufgenommen wurde, führte aber oft zur Erblindung, weil auch am Sehnerv Rezeptoren für die Arsenverbindung sind. In seinem Labor konstruierte Paul Ehrlich mit seinem japanischen Mitarbeiter Sahachiro Hata (1873–1938) unzählige organische Arsenverbindungen. Mit der 606. Verbindung, dem Arsenobenzol gelang es ihm, Trypanosomen abzutöten, ohne dass massive Nebenwirkungen auftraten. Da Atoxyl auch gegen Spirochäten wirkte, war nun festzustellen, ob das „606“ nicht auch gegen diese Erreger wirksam sei. In Tierversuchen wurde die Wirkung erfolgreich getestet und wenige Nebenwirkungen festgestellt.

Mit größter Vorsicht wurde das Mittel 1910 bei menschlicher Syphilis eingesetzt. Die Ergebnisse waren verblüffend, denn Wunden und Geschwüre heilten oft schnell ab. Hoechst führte das Präparat im Dezember 1910 unter dem Handelsnamen Salvarsan ein. Die Verabreichung war schwierig, denn die sauerstoffempfindliche Substanz musste einer Ampulle entnommen werden und mit Natronlauge und Kochsalzlösung bearbeitet und schnell injiziert werden. Auch andere Krankheiten, die durch Spirochäten ausgelöst werden, konnten geheilt werden. Zur Verwirklichung seiner Idee benötigte Ehrlich, wie er scherzhaft zu sagen pflegte, die vier großen G: Geld, Geduld, Geschick und Glück.

Von Kritiker/innen wurde Ehrlich in der Folgezeit hart angegriffen, was einerseits antisemitische Ursachen hatte. Anderseits war auch die Verabreichung von Salvarsan zum Teil mit heftigen Nebenwirkungen verbunden. Die Rezeptur wurde daher mehrfach angepasst, bevor es in der Nachkriegszeit weitgehend vom Penicillin abgelöst wurde. Zu den weiterentwickelten Varianten gehört auch das „Myosalvarsan“ aus unserer Sammlung, das 1927 auf den Markt gekommen war.

Literatur:

Helmstädter, Axel: 100 Jahre Salvarsan, in Pharmazeutische Zeitung, Ausgabe 51/52/2010, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-51522010/chemisch-auf-erreger-zielen/ (19.04.2020)
Winkle, Stefan: Geisseln der Menschheit, 1997, Düsseldorf, Zürich. S. 595-605.
Hüntelmann, Axel: Paul Ehrlich: Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke. Göttingen 2011. https://www.chemie-schule.de/KnowHow/Natriumhydrogenarsanilat (18.04.2020) https://www.diepta.de/news/praxis/welch-ein-name-ehrlich-faerbt-am-laengsten-551852/ (18.04.2020)

Autor: Hans Fischer